Tobias Gohlis über Gianrico Carofiglio

 



Guido ist Gianrico – oder doch nicht?

Mal Schlawiner, mal gesetzestreu

Ein empfindsamer Mann

Wortmächtig, voll Selbstzweifel

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Gianrico Carofiglio:
Reise in die Nacht
Die Vergangenheit ist ein gefährliches Land

 

Eher Cicero als Perry Mason

Gianrico Carofiglios Gerichtsthriller aus Italien

Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Name Gianrico Carofiglio nur einigen Mitgliedern der italienischen Justiz und der Mafia ein Begriff. Der allerdings ein durchaus unbequemer. Denn der 1961 geborene Gianrico Carofiglio ist seit seinem dreißigsten Lebensjahr als Antimafia-Staatsanwalt in der apulischen Hauptstadt Bari tätig und hat etliche Mitglieder der „ehrenwerten Gesellschaft“ hinter Gitter gebracht. Doch seit in Italien 2002 sein erster Kriminalroman erschien, geht Carofiglios Stern auch am Literaturhimmel strahlend auf, zumindest an dem der Kriminalliteratur. In deutscher Sprache sind bisher zwei Titel um Avvocato Guido Guerrieri erschienen, ein dritter folgt im Herbst 2007. In Italien hagelte es mehrere Preise für Debütromane, außerdem wurde Carofiglios Roman Il passato è una terra straniera (deutsch 2009: Die Vergangenheit ist ein gefährliches Land) 2005 mit dem angesehenen Premio Bancarella ausgezeichnet, den 1953 erstmals Ernest Hemingway erhielt.“

Guido ist Gianrico – oder doch nicht?
Wie beinahe alle Verfasser fiktionaler Literatur hat auch der Staatsanwalt aus Bari persönliche Gemeinsamkeiten mit seinem Helden lange bestritten. Erst als er, wie er charmant und selbstironisch gleichermaßen eingesteht, merkte, dass er damit seinen Erfolg bei den Leserinnen steigern kann, hat er Ähnlichkeiten eingeräumt. Dabei liegen die Ähnlichkeiten auf der Hand: Beide sind schlank, lieben die Literatur und die Musik und die Frauen, beide betreiben Kampfsport (Carofiglio Karate, Guerrieri boxt), sind Juristen und leben in Bari. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Erfinder und Erfundenem führt ins Zentrum von Carofiglios Romanen. Als sie sich den Vierzig näherten, befiel beide die große Krise. Der Staatsanwalt, der schon als kleiner Junge (wie fast alle Kinder) Geschichten erfunden und seitdem (nicht mehr wie fast alle) an dem Traum festgehalten hatte, dies einmal professionell zu tun, begriff plötzlich: Wenn er diesen Kindertraum nicht wahr machte, würde es immer ein Traum bleiben. Und so begann er, die Geschichte eines Mannes in der Krise zu schreiben. Er verfasste sie in den kleinen Pausen seines Justizalltags, in den Minuten des Wartens auf einen neuen Vernehmungstermin, in Gerichts- und Gefängnisfluren und Bars. „Ich kann mich nicht länger als 30 Minuten auf etwas Bestimmtes konzentrieren“, vertraute er einer Journalistin von der Süddeutschen Zeitung an. „So kann ich zwischen verschiedenen Tätigkeiten hin und her wechseln.“ Die Krise, in die der wohlsituierte Avvocato Guido Guerrieri in Reise in die Nacht (original 2002: Testimone inconsapevole) gerät, ist weitaus tiefer und langwieriger zu überwinden als die seines Autors. Scheint es.

Mal Schlawiner, mal gesetzestreu
Guerrieri ist ein Schlawiner, Seitensprünge waren an der Tagesordnung, und deshalb sitzt er jetzt von der Ehefrau verlassen an der frischen Luft und „tief in der Scheiße“, als eine junge Senegalesin bei ihm aufkreuzt. Ihr Landsmann Abdou Thiam ist angeklagt, einen neunjährigen Jungen umgebracht zu haben. Er steckt – grün und blau geschlagen von fürsorglichen Staatsschützern – in Untersuchungshaft. Die Anwälte, die ihm zugeordnet wurden, kassierten seine letzten Lire - selbstverständlich ohne Quittung. Schließlich brüsten sie sich damit, dass sie im Jahr weniger Steuern zahlen als sie bei der Ausfertigung eines einzigen Antrags verdienen. Guerrieri nimmt sich des Falles an, seine Motive bleiben offen. Er ist jedenfalls kein Gerechtigkeitsfanatiker, denn sonst würde er nicht alle die Kleinkriminiellen, üblen Spießer und Mafiosi verteidigen, mit denen er sein Geld verdient. Nein, Guerrieri ist kein strahlender Held, weder als Jurist noch als Mann.

Ein empfindsamer Mann
Es scheint, als habe Carofiglio in seinem ersten Roman mit aller Wucht gegen das Klischee vom italienischen Macho anschreiben wollen. Sein Avvocato wird überrollt von Panikattacken. Klaustrophobie befällt ihn, wenn er den Lift zu seiner Kanzlei im achten Stock benutzen will, unvermutet fällt er in Weinkrämpfe. Als er aber vom Psychiater Medikamente verschrieben bekommt, die seine Libido einschränken könnten, kippt er sie ins Klo – so weit hält er sich doch für Manns genug. Tatsächlich ist dies das tragende Spannungsmoment, das Carofiglio die Herzen seiner weiblichen und männlichen Leserschaft gewinnen lässt: Wie sich Guido am eigenen Schopf aus der tiefen Depression zieht, indem er Empathie zu seinem Mandanten entwickelt und diesen auf dem Höhepunkt eines aussichtslos scheinenden Prozesses freikämpft. Das ist ein neuer Ton im Macho-Diskurs. Guido härtet sich, indem er sensibler wird, er gewinnt an Statur, indem er an Profil verliert. Carofiglio findet einen kühlen Ton für die lange Reise seines Helden, die keineswegs in die, sondern eher aus der Nacht der Depression führt. Aus der vivisektorischen Distanz verlieren Nervenzusammenbrüche und Angstanfälle ihre peinliche Sentimentalität, zugleich schärft sie den ironischen Seitenblick auf die ungeheuerliche Unfähigkeit der Justiz. Denn was die mit dem senegalesischen Einwanderer veranstaltet, geht auf keine rechtsstaatliche Kuhhaut. Nachdem Abdou einmal geschnappt ist, wird nach keinem weiteren Verdächtigen gesucht. Aus spärlichem Indizienmaterial wird gegen ihn eine so einschüchternde Anklagekette konstruiert, dass sogar der Avvocato zunächst bereit ist, sich auf einen Deal einzulassen, der dem Unschuldigen zwanzig Jahre statt Lebenslänglich einbringt. Doch eine Mischung aus anwaltlichem Rest-Stolz, Männersolidarität (Abdou hat einen Selbstmordversuch begangen, seine Freundin hat sich verdrückt) und Vertrauen in die Unschuldsbeteuerungen seines Klienten bewegen den Avvocato dazu, alles auf die Freispruch-Karte zu setzen.

Wortmächtig, voll Selbstzweifel
Carofiglio ist mit Reise in die Nacht eine beeindruckende Engführung von Entwicklungsroman und Gerichtsthriller gelungen. Als es schließlich zum Schwurgerichtsverfahren kommt, hat Guerrieri – ganz im Unterschied zum großen amerikanischen Vorbild Perry Mason – nämlich nichts in der Hand: „Ich hatte nicht eine Zeugenaussage, nicht ein entlastendes Indiz, gar nichts.“ Im Unterschied zu Erle Stanley Gardner hat Carofiglio seinem Verteidiger weder kein Detektivbüro zur Seite gestellt. Guerrieri kämpft seine Mandanten ausschließlich mit der Macht des Wortes frei und durch die Gewitztheit seiner juristischen Argumentation. Er ist eher Cicero als Perry Mason. Mit einem Unterschied: seinem Selbstzweifel. Denn in Guerrieri steckt immer noch der „verwöhnte kleine Junge“, und oft kommt er sich wie ein Hochstapler vor. Der allerdings, wenn er seine Angst überwunden hat, immer noch besser ist als der ganze Rest der juristischen Mischpoke – nur die Staatsanwältin, die in seinem zweiten Fall einen Schläger und Stalker anklagt, kann ihm das Wasser reichen. Aber die wird nach Palermo versetzt, so dass Guerrieri sich allein an seine dritte Mutprobe wagen muss. Der Titel Ragionevole dubbi (vernünftige Zweifel, deutsch 2007 Das Gesetz der Ehre) spielt auf den Grundsatz an, dass ein Angeklagter nur dann verurteilt werden darf, wenn keine Zweifel mehr an seiner Schuld besteht. Carofiglio hat dieses Motiv, aus dem amerikanischen Gerichtsthriller oder courtroom drama lange bekannt, in die italienische Literatur neu und glanzvoll eingeführt.

Unredigiertes Manuskript, Mai 2007