Tobias Gohlis über Thea Dorn: Die Brut

 


Dorns Edelkarosse

Glatt gepfeilt und schlüpfrig

Faust auf's blaue Auge

 

 

 

 

 

Meine Brut gehört mir

Es gibt Lebensweisheiten, die man nicht ungestraft verletzt. Zum Beispiel diese: Laß dein Herz herausfinden, mit wem du dein Bett teilen willst, wem du aber dein Paßwort gibst, entscheide kühl mit dem Kopf. Das sollte selbst dann gelten, wenn der Laptop ausgefallen ist, in dem die Infos über einen Promi gespeichert sind, den man in wenigen Stunden vor laufenden Kameras live interviewen soll. Exakt in einer solchen Notlage ist Moderatorin Tessa Simon. Sie soll Gabriele Behrens auf „Die Couch“ legen – so heißt ihre Talkshow. Behrens ist Kanzlerkandidatin der SPD, das Interview mit ihr das wichtigste in Simons Karriere. Und dann verweigern sich ihr Mac und der 24-Stunden-Computernotdienst. Da bietet sich der rettende Ausweg: Sebastian Waldenfels, der schöne, ältere Mann, Schauspieler und grandiose Liebhaber, mit dem Tessa so innig zusammenlebt, gibt ihr das Paßwort für seinen Computer, damit sie sich die verlorenen Daten über sein funktionstüchtiges Gerät erneut zusenden lassen kann.

Dorns Edelkarosse
Und natürlich entdeckt Tessa in Sebastians Mailbox, was sie auf keinen Fall finden sollte: einen verräterischen Brief von Sebastians noch so gar nicht verflossener Ex.

Das klingt wie Kolportageroman und soll auch so klingen, jedenfalls kann man das getrost vermuten, wenn man es mit einer Autorin wie Thea Dorn zu tun hat. Sie schreibt Sätze, die mit allen medialen Wassern gespült sind. Krimis kann man in gewisser Weise mit Autos vergleichen. Die meisten sind brave Mittelklassewagen, mehr oder weniger sorgfältig hergestellt, manchmal ist ein Montagsauto drunter, insgesamt aber tun sie ihren Dienst und halten den geistigen Verkehr nicht auf. Viele sind auch auf Krawall getunt, da fliegen die Fetzen, wenn es um die Kurve geht: Serienkiller, Inzest, Metzeleien ziehen dunkelrot ihre Blutbahn. Und dann gibt es die Edelkarossen, die sich verdächtig lautlos und erschütterungsfrei bewegen, gleich, ob sie auf Bundesautobahnasphalt oder durch Schlaglöcher rollen. Zu dieser Sorte gehört Thea Dorns Die Brut.

Glatt gefeilt und schlüpfrig
So glatt gefeilt, so fein poliert, so glänzend schlüpfrig, so nah am kommunen Vorurteilshorizont ist dieser Roman geschrieben, dass man auf den ersten drei Vierteln der Strecke nicht einmal richtig weiß, worauf sich das Ganze überhaupt zuspitzt. 300 Seiten lang läuft eigentlich alles irgendwie ganz gut, und doch läuft es schief. Aber was genau läuft schief?

Eigentlich ist ja alles bestens. Tessa interviewt bravourös die Behrens, und als ein Popsternchen unter Tränen auf ihrer TV-Couch eingesteht, dass sie an der Hodgkinschen Krankheit sterben wird, katapultieren die Quoten sie aus dem Dritten ins Erste. Auch Privat ist alles super. Trotz Weglassung der schützenden Gummis hat sich Tessa nicht den „rasenartigen weißen Belag“ geholt, der eine Candida-Infektion der Geschlechtsteile signalisiert – sie war in der Mail der Ex ein wichtiges Thema -, sondern kommt, ganz auf Höhe der Zeit per Kaiserschnitt, neun Monate später mit einen strammen Victor nieder. Tessa ist on the top: als Mutter, als Moderatorin und dann noch als Braut in Weiß, Kindstaufe im Festakt inbegriffen.

Das heißt: Nichts ist O.K, schon gar nicht bei einer Autorin, die ihr Pseudonym nach dem bekannt mißtrauischen Theodor W. Adorno gestaltet hat. Spannung entsteht, weil der Autor den Leser im Unklaren lässt, wie die Geschichte enden wird. Sehr spannend, ja raffiniert wird es, wenn zusätzlich zum Leser auch die Hauptfigur nicht mehr weiß, wo es langgeht. Und so geschieht es hier: Im furiosen, durch lauter kleine Vorverweise, anonyme Anrufe und Gefühlsausbrüche sorgsam aufgeladenen Finale löst das Verschwinden der strammen, aber kreischlustigen Brut ein Chaos aus Verdächtigungen und Verfolgungen aus, in dem zeitweise nicht einmal die schlimm verwirrte Heldin selber weiß, ob sie ihr Kind von der Terrasse hat fallen sehen oder ob sie das Entsetzliche lieber nicht hat sehen wollen.

Faust auf's blaue Auge
Das Ende, das wie immer nicht verraten wird, ist absolut mediengerecht und paßt alles in allem wie die Faust auf's blaue Auge in die Debattenlandschaft, in der es um die Vereinbarkeit von Kinderkriegen, weiblicher Berufskarriere und Steigerung des persönlichen Bruttoeinkommens geht. Das ist das Schöne an diesem kalt geschmiedeten Meisterstück, das ein wenig zu lang, aber ziemlich scharf ist: Es lässt weder die Mütter, noch die Medien, erst recht nicht die schönen Schauspieler oder Söhne names Victor ungeschoren. Das Böse ist überall, und ungezügelt in der Einbildung.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 9/2004 vom 19.2.2004