Tobias Gohlis über Giuseppe Genna: Im Namen von Ismael



Im Namen des Teufels

Wer ermordete Enrico Mattei?

Erste Garnitur

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Giuseppe Genna: Im Namen von Ismael
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann u. Maja Pflug


 

 

 

 

Dämon der Weltmacht

Das Verbrechen kommt über den Atlantik, entfesselt das Böse und ist ein mächtiges Rätsel. Wer sich ihm stellen will, muss alle Gehirnmuskeln spielen lassen. Der 33-jährige Mailänder Giuseppe Genna ist als ehemaliger Herausgeber einer Literaturzeitschrift, als Gutachter des italienischen Parlaments in Terrorismusfragen und als Redakteur eines Online-Magazins mit allen literarischen und nichtliterarischen Wassern gewaschen. Sein Spionagethriller Im Namen von Ismael wird in Italien, wo er Anfang 2002 erschien, als gegenwärtiges Nonplusultra der einheimischen Kriminalliteratur gehandelt: Weltniveau erreicht!
Jungstar Genna spannt seinen Bogen weit. Während er sich in Pressegesprächen als Bewunderer von James Ellroy und Patricia Cornwell rau und weltmarktfähig gibt, spielt er mit den literarisch Gebildeten unter seinen Lesern über die Bande der Zitierkunst. Jedem Kapitel seines Romans hat er ein Zitat vorangestellt.

Im Namen des Teufels
Für das Eröffnungskapitel Ismael hat er eine Stelle aus einem Brief Herman Melvilles an seinen Mentor Nathaniel Hawthorne über Moby-Dick gewählt: "Dies ist das Motto (das geheime) des Buchs - Ego non baptiso [!] te in nomine - aber finden Sie den Rest selbst heraus." Prätenziös bis in die letzte Anspielung: Kapitän Ahab tauft die für den weißen Wal geschmiedete Harpunenspitze "im Namen des Teufels, nicht im Namen Gottes" (so die Vollendung der in Melvilles Brief nur angedeuteten Floskel). Die Initiation in die Dunkelwelt internationaler Verbrechen geschieht im Namen Melvilles, des Teufels und Ismaels, der bekanntlich nicht nur die Erzählerfigur von Moby-Dick, sondern auch der verstoßene Sohn Abrahams und mythologisch Stammvater der Araber war. Schweres symbolisches Kaliber.
Am 27. Oktober 1962 wird im Mailänder Giurati-Stadion die Leiche eines vergewaltigten Säuglings gefunden. Inspektor David Montorsi, noch jung und tollpatschig, stößt - so weit ist das genreüblich - bei seinen Ermittlungen auf Hindernisse. Weniger üblich sind die Spuren, denen er folgt. Die Hinweise, die er in der Pädophilenszene, in Partisanenmuseen und Zeitungsarchiven findet, deuten zwar auf eine ominöse Gestalt oder Organisation namens Ismael, scheinen aber zugleich von dieser für ihn inszeniert. Mit jeder Tatsache, die der Detektiv aufdeckt, verwirrt er sich tiefer in einem Netz, das für ihn ausgelegt scheint. Zugleich wirkt "Ismael" immer komplexer und undurchschaubarer. Handelt es sich um eine amerikanische Geheimdienstoperation, um einen sadomasochistischen Club, eine Organisation von Kinderschändern, eine religiöse Sekte oder um all das zugleich? David Montorsi wird im Namen Ismaels getauft: mit einer Folge entsetzenerregender Verbrechen.

Wer ermordete Enrico Mattei?
Eines davon ist die Ermordung Enrico Matteis. Genna unterstellt, der mächtige Chef des staatlichen Energiekonzerns ENI, dessen Tod am 27. Oktober 1962 bis heute unaufgeklärt ist, sei ein Opfer Ismaels. "Mir erscheint die Theorie des Komplotts wie der Müllhaufen der Geschichte", klärt Genna seinen Standort zwischen Geschichte und Fiktion. Ismael enpuppt sich als Dämon der US-amerikanischen Suprematie über die Welt. Genna beleuchtet zwei Stadien seiner Entwicklung.
1962 beginnt Ismael, sich in die italienische Gesellschaft einzufressen. Während Montorsi seiner noch jungen verborgenen Existenz kaum einen Schritt näher kommt, ist Ismael in der Gegenwart des Jahres 2001 voll da. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist seine Zeit angebrochen. Und wieder kämpft ein Inspektor, diesmal ein müder Mittvierziger, Junkie und Nihilist, einen aussichtslosen Kampf. Genna erzählt beide Zeitebenen parallel in Schnitt und Gegenschnitt. Das macht es dem Leser leicht: Im Gegensatz zu Montorsi weiß er von Beginn an, dass Ismael kein Phantom ist. Und schwer: Deshalb sinkt im Verlauf des Romans die Spannung. Immer weniger bestimmt das Geheimnis der Existenz Ismaels das Geschehen, sondern die Frage, wie er oder es geschlagen werden kann. (Selbstverständlich nie.)

Erste Garnitur
Im Namen von Ismael erschien wenige Tage nach dem 11. September 2001. In Gennas rasantem und komplexem Thriller erscheint das Weltherrschaftsstreben der US-Oligarchien so allmächtig, spirituell gefährlich und dämonisch, dass man versteht, warum es wahnwitzige Ohnmachtsattacken provoziert - und warum sie scheitern müssen. Trotz manchem Erstlingsbombast reiht sich Im Namen von Ismael in die Tradition der skeptischen Aufklärer ein. Im Namen von Ambler, Le Carré und Ellroy.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 37/ 5.9.2002