Tobias Gohlis über Chancen und Elend der Reiseliteratur



Eine große Tradition in Deutschland

Ortsbeschreibung - Fortbewegung

Benennungsmagie

Schranke des Vorwissens

Lest Reiseberichte, erst dann Ratgeber und Kataloge

Reisen als kontrollierter Ausnahmezustand

Alles machbar, Herr Nachbar?

Subkulturen der Verblödung

Geschärfte Sinne

 

 

 

 

Ortsbeschreibung mit allen Sinnen - von Chancen und Elend der Reiseliteratur

Vortrag in der Ev. Akademie Loccum, Januar 1993

Mit meinem Vortrag möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Tätigkeit lenken, die mit dem modernen Tourismus auszusterben scheint: die literarische Reiseberichterstattung. So gering ist ihre praktische Bedeutung im deutschsprachigen Raum geworden, daß ich mich, je länger ich darüber nachdachte, desto entschiedener zu einem Plädoyer für die Reiseliteratur gedrängt sah.
Bestandsaufnahme oder gar Berufsfeldbeschreibung würden allzu dürftig ausfallen. Während im englischsprachigen Raum "travel-writing" und sein literarisches Produkt, die "armchair-travel", erfolgreich und verbreitet sind, kann man die deutschsprachigen Reiseschriftsteller an zwei Händen abzählen, aber auch nur dann, wenn man Spezialist ist.

Eine große Tradition in Deutschland
Dabei blicken wir auf eine bedeutende Tradition dieser faction-Literatur zurück. Die Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, denken wir nur an Seumes unablässig zitierten, aber kaum noch gelesenen "Spaziergang nach Syrakus" oder an die Berichte Georg Forsters von der ersten Weltumseglung mit James Cook, öffneten und erhellten im Geist der Aufklärung den engen Horizont der deutschen Zwergstaatenbewohner. Jener Ausspruch Lichtenbergs, die Indianer hätten mit den ersten Europäern vor ihrer Küste eine schreckliche Entdeckung gemacht, ist Forsters Tagebuch entnommen. Goethes Italienreise, Heines Reisebilder, Fontanes Feuilletons über die Mark Brandenburg - die in diesen Meisterwerken formulierten Länder- und Lebenserfahrungen sind Bestandteil unseres Wissens über die menschliche Seele und ihre Lebensräume. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Polgar, Tucholsky, Kisch, Döblin mit bissigem Witz und Herzoffenheit erneut das Staunen gelehrt. Und noch in den fünfziger und sechziger Jahren machten Alfred Andersch, Heinrich Böll und Wolfgang Koeppen den naziverblödeten Deutschen den aufmerksamen und differenzierten Blick auf Fremde anderer Nation und Rasse vor.
Heute kennen wir nur noch einen wirklich bedeutenden Reiseschriftsteller deutscher Sprache, und der ist ein alter Mann. Melancholisch - alle leidenschaftlich Reisenden sind Kinder des Saturn - bilanziert Horst Krüger 30 Jahre Reiseschriftstellerei:
"Nein, die Branche ist nicht ausgestorben. Sie ist nur ins journalistische Abseits der Tourismuswerbung geraten. Sie feiert im Hochglanzstil traurige Feste zunehmender Bedeutungslosigkeit. Im Reiseblatt publiziert zu werden, bedeutet glatte Herabstufung... Ist nicht das Abenteuer der Ferne, der Fremde tatsächlich zum ekelhaften Duft der großen, weiten Welt verkommen?"

Optimismus ist nicht angesagt. Der Markt der Reisebücher boomt wie verrückt, und die Reiseliteratur droht zu verschwinden. Mag sein, daß das Verschwinden der Reiseliteratur mit dem Ende der Schriftkultur und dem Beginn einer neuen Kultur elektronisch vermittelter Bilder zu tun hat - das sollen andere erörtern. Ich möchte in einer Art kulturpessimistischem Trotz erinnern an das, was verloren zu gehen droht. Vielleicht ergibt sich daraus ein Anstoß, wie neue Perspektiven zu gewinnen wären.

Ortsbeschreibung - Fortbewegung
Orte zu beschreiben gehört zur menschlichen Existenz. An einem Ort, der nicht beschrieben ist, scheinen wir es nicht aushalten zu können. Schon die Steinzeitjäger bemalten ihre Höhlen. In fast jedem Dorf oder Stadtviertel beugen sich Heimatforscher über ihre Chroniken. Alle Kulturen kennen sprechende Orte, Orakelstätten, brennende Dornbüsche. Der genius loci, von dem heute noch unter humanistisch Gebildeten schwärmerisch die Rede ist, war ursprünglich sprechender und wirkender Orts-Gott, gebunden an einen bestimmten Platz, eine Quelle, eine Höhle. Meta-physisches Denken ist ohne einen Ort, den es beschreiben, transzendieren, verlassen oder an den es zurückkehren könnte, nicht denkbar.
Eine Zeichnung in den Höhlen von Lascaux zeigt einen verwundeten Bison, einen toten Jäger und einen Vogel. Dieses vielleicht zehntausend Jahre alte Bild wird interpretiert als Darstellung einer Seelenreise, wie sie von den Schamanen Sibiriens bekannt ist. An diesem Ort sind Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges eins. Orte ohne Vergangenheit und ohne Zukunft besitzen keine Bedeutung. Letztlich wären solche Orte nicht erlebbar, weil wir in ihnen reduziert wären auf die Gegenwart. Wir erlebten ihn wie ein Punkt eine Linie erlebt. Vergangenheit und Zukunft und damit Bedeutung erhält ein Ort, indem seine Geschichten, Träume und Mythen erzählt werden. Ortsbeschreibung und Reisebeschreibung gehören zusammen. Wir wollen wissen, wie der Ort entstanden ist, wer dort lebt, wie man dorthin gekommen ist, wie man weggehen kann.
Wir halten es an keinem Ort aus ohne die Sehnsucht, ihn verlassen zu können. Es gibt zwei Wege, dies zu tun: der eine ist die Reise, der andere ist die Phantasie, also Kunst, und besonders: Literatur. Keine Reise, die nicht in der Phantasie vorweggenommen wäre.
Die Gegenden, nach denen wir uns sehnen und die wir erreichen wollen, sind der Nicht-Ort, das Utopia, oder das Paradies, der "umfriedet friedliche Garten", so die persische Ursprungsbedeutung des Wortes. Wenn der neue Ort nur anders ist, wird er schon besser sein, so lautet die unablässig geäußerte und immer aufs Neue enttäuschte Hoffnung. Ortsbeschreibung ist immer beides: Vermessung des eigenen Standpunkts, Bestandsaufnahme der condition humaine zu Hause und Entwurf der Wunschlandschaft. Jede Topo-Graphie enthält Strukturen und Bausteine ihrer Anderwelt. Aus Ortsbeschreibung plus Ungenügen wird Reiseplan.

Benennungsmagie
An diesem Punkt, wo die Sehnsucht nach der Fremde in die Planung umschlägt, meldet sich endgültig die Literatur. Sie benennt Orte, gibt ihnen Bedeutung, führt die Phantasie voraus, beschreibt die Umstände des Wegs. In diesem Sinne - Hans Scherer hat dies im Vorwort zu einer Sammlung von in der FAZ veröffentlichten Buchbesprechungen selbstironisch skizziert - ist jedes Buch Reiseliteratur. Allen voran die Kultbücher: ob Bibel, Joyce's Ulysses oder die letzte Elvis-Biographie, sie umschreiben den potentiell unendlichen Vorrat an Imagination und Identifikation, den ein Ort mit Geschichte und Geschichten auf sich zu ziehen vermag.
Auf einer Westsamoa-Reise reflektiert Paul Theroux, der vielleicht wichtigste travel-writer unserer Tage, wie Robert Louis Stevenson dieser Inselgruppe einen Platz im Bewußtsein der westlichen Welt gab. "Er war ein Zauberer seiner Zunft und gehörte zu den Autoren, die einem Ort eine bestimmte Magie verleihen, indem sie ihn zum Schauplatz seiner Erzählungen machen. Ein Ort, den ein solcher Autor (...) beschreibt, verliert seine Zauberkraft nie wieder, selbst wenn die Realität das Bild verändert. Bücher haben die Macht, einen ganz gewöhnlichen Ort mit der Aura des Besonderen zu umgeben." Im Falle Stevensons entstand diese Macht - abgesehen von seiner schriftstellerischen Befähigung - aus der unermüdlichen Suche nach dem vollkommenen Ort, an dem es sich leben ließe. Die Energie dieser Suchbewegung ist in seinen Ortsbeschreibungen bewahrt. Selbst Menschen, die kaum je ein Buch lesen, messen einem Ort, an dem ein Roman gespielt oder ein Schriftsteller gelebt hat, hohe Bedeutung zu. Die touristische Nutzung solcher vermeintlich literarischen Würde wäre einen eigenen Essay wert.

Schranke des Vorwissens
"Man sieht nur, was man weiß" - das hochgemute Motto, mit dem der DuMont-Verlag für seine Reiseführer wirbt, beschreibt nur eine Bedeutung von Reiseliteratur für die Erfahrung des Fremden, und zwar eine untergeordnete. Einerseits: Je mehr Vorwissen man mitbringt, desto mehr und desto vielfältiger wird das sein, was man sich am unbekannten Ort erschließen kann. Aber das Vorwissen begrenzt andererseits auch die Erfahrungsmöglichkeiten. Denn es reicht nicht dazu aus, die Fragen zu finden und die Wege zu suchen, die dem Reisenden sein ganz persönliches Erleben der Fremde, seinen eigenen Zugang zum Anderen ermöglichen. Die im Reiseführer zu objektiviertem Wissen kondensierte Erfahrung ermöglicht bestenfalls die Wiederholung dieser Erfahrung. Wer sich auf den Reiseführer beschränkt, hat nichts zu entdecken.
Im Unterschied zum Entdecker ist der Tourist auf Wiedersehen aus. Er sammelt Sehenswürdigkeiten und ist empört, wenn die Wirklichkeit, zum Beispiel in Gestalt geparkter Autos, das Bild verstellt, das sein Reiseführer ihm vorgemacht hat. Das Reiseführerwissen gehört zu dem geschlossenen Regelkreis, den der amerikanische Romancier Thomas Pynchon als "Baedekerwelt" verspottet. Pynchons Tourist schlüpft in Safarikleidung und gibt Bakschisch an Händler und Touristguides, damit diese ihn davor bewahren, in die Welt hinter der Baedekerwelt zu geraten. Der Baedekermensch bewegt sich nicht in der Fremde, sondern in der klimatisierten Gondel seines Reiseführers.

Es ist ein Trugschluß zu glauben, man könne auf Reisen dem herkömmlichen Ich oder gar den grundsätzlichen Problemen des Alltags entfliehen. Dazu notiert der Ethnologe und Schriftsteller Hans-Jürgen Heinrichs: "Alles, was einer in der Fremde erlebt, kann er, im Prinzip, auch zu Hause erleben; oder anders gesagt: er wird in der Fremde nur das erfahren, was in ihm (für das Erlebnis) bereit ist. Nur hindert ihn in der eigenen Kultur allzuoft das Eingespielte des Alltagslebens daran, sich für Anderes zu öffnen." Im Aufbrechen der routinierten Verkrustung, im Durchlässig-Werden der äußeren Hautschichten liegt die Chance des Reisens, gleich, ob die Reise nach innen oder außen führt. Paul Theroux, dessen monumentalen Reiseschmöker Die glücklichen Inseln Ozeaniens ich Ihnen nebenbei sehr empfehlen möchte, bemerkt: "Reisen, das meist als Flucht vor dem eigenen Ich angesehen wird, ist meiner Auffassung nach das genaue Gegenteil. Es gibt nichts, das so sehr die Konzentration fördert oder das Gedächtnis anregt wie eine unbekannte Landschaft oder eine fremde Kultur."

Lest Reiseberichte, erst dann Ratgeber und Kataloge
Doch welche Art von Literatur ist imstande, diesen Konzentrationsprozeß, diese Erweckung in der Fremde zu befördern? Die in Hamburg lebende japanische Schriftstellerin Yoko Tawada hat das Rezept als scheinbares Paradox formuliert: "Ich schrieb immer einen Reisebericht vor der Reise, damit ich während der Reise etwas daraus zitieren konnte. Denn als Reisende war ich oft sprachlos."
Nun, wer sprachlos ist, dem fehlt der passende Begriffsdeckel für das Erlebnis. Er kann staunen, und dieses Staunen-Können ist Frucht eines vorausgegangenen Selbstklärungsprozesses: der vor der Reise formulierte Reisebericht enthält die von Haus aus kulturell und persönlich mitgeschleppte Erlebnisstruktur von Fragen und Antworten. In ihn sind die Bilder des Eigenen und des Fremden, Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen eingegangen. Als formulierte Sprachgestalt sind sie handhabbar, dem bewußten Umgang zugänglich im Gegensatz zum Vorurteil, das man hat, aber nicht bemerkt. Die innere Distanz zum Ausgangsort, die die Reise erbringen soll, ist geistig so schon hergestellt. Sie muß nur noch eingelöst werden. Zwischen abgeklärter Herkunft und unbekanntem Ankunftsort stellt der Vorab-Reisebericht einen persönlichen, subjektiv bewußten Spannungszustand her, der aus der nach Sachgesichtspunkten geordneten Informationsmasse eines Reiseführers nicht gewonnen werden kann. Wer sich wie Yoko Tawada seinen entschlackenden Reisebericht vor der Abfahrt macht, weiß noch mehr, als DuMont je bieten kann: wie Sokrates weiß er, daß er nichts weiß, und bleibt in der Fremde sprachlos. Bis sie zu ihm und er zu sprechen beginnen kann.
Da nun aber die wenigsten Reisenden über die schriftstellerischen Fähigkeiten Yoko Tawadas verfügen, greifen sie palliativ zum Reiseführer, oder, wie dieser Tage ein Reiseveranstalter wirbt: zur "Urlaubslektüre, dem Sommerkatalog". Ich plädiere für eine andere Rang- und Reihenfolge: Lest die Literatur der Fremde, lest Reiseberichte, erst dann die Ratgeber und Kataloge. Nur der literarische Reisebericht, der der Wahrhaftigkeit subjektiven Erlebens verpflichtet ist und nicht der Erklärung oder Anpreisung von Destinationen, aber auch nicht dem sachlichen Wahrheitsanspruch der Reportage, kann in der Phantasie des Lesers den Erwartungshorizont wecken, der offen, weitreichend und tragfähig genug ist für das Erleben und Ertragen dessen, was auf der Reise geschehen wird.
Deshalb auch berichtet alle wahrhaftige Reiseliteratur von Katastrophen. Das, was unseren Alltag bestimmt, potenziert sich auf Reisen: Enttäuschung großer Hoffnungen, Empörung über schlechte Bedienung, Mißverständnisse und Aneinandervorbeireden, Verletzungen, Zerstörung, Planlosigkeit. Glücksmomente kommen auch vor, als Tupfer. Davon handeln die Reiseberichte vom Gilgamesch-Epos und der Odyssee bis zu Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke: vom Leben als Wagnis und experimenteller Reise, vom Kampf gegen unzählige innere und äußere Widrigkeiten, den mensch bestenfalls anständig verlieren kann. Das steckt hinter dem Gedanken Pascals, daß "das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, daß sie nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben können."

Reisen als kontrollierter Ausnahmezustand
So gesehen ist alles Leben Ver-Reisen und Irrfahrt. Und doch kann Reise etwas anderes als das alltägliche Leben sein: ein kontrollierbarer, riskierter Ausnahmezustand, ein Übungsfeld für Lebenskunst. Die Literatur darüber, der literarische Reisebericht, führt diesen experimentellen Ausnahmezustand als lebbar, als menschliche Möglichkeit, vor, gerade auch dann, wenn er nicht nachahmenswert ist. Wir sind doch heilfroh, wenn wir von Amundsens oder Messners Antarktismärschen lesen dürfen, ohne uns sogleich selber aufmachen zu müssen. Pointiert gesagt: Die Sesselreise ist nicht nur der sanfteste Tourismus, der sich denken läßt. Möglicherweise hat sie auch die größte verändernde Wirkung.

Alles machbar, Herr Nachbar?
Im Unterschied zum grenzüberschreitenden, einmaligen Wagnis der Lebensreise zehrt die Tourismusindustrie von der Wiederholbarkeit. Spaß, Sonnenschein, drei Wochen unendliches Glück: alles machbar, Herr Nachbar. Mit dem Versprechen, alle Träume erfüllen zu können, und mit dem Versuch, dies zu realisieren, werden die Ressourcen gefährdet, die Grundlage auch des Reisens sind. Nicht nur Natur, Landschaft, Lebensräume, in unserem Fall steht auch die Phantasie auf dem Spiel. Die Ideologie des Tourismus ist ewige Gegenwärtigkeit, vergangenheits- und zukunftsloser Stillstand. In den schönsten Wochen des Jahres soll vergessen sein, daß unsere Geschichte mit der Vertreibung Adams und Evas aus ihrem Erlebnispark ihren Anfang nahm.
Paradies und Schlaraffenland werden nicht nur gespielt, das angeblich folgenlose Apfelpflücken wird von Alka Seltzer zu Alka Seltzer trainiert. Das Abknipsen vorbeschriebener Fotomotive, wie es z.B. der Agfa-City-guide vor-führt, ist so eine Verdummbeutelung schlimmster Art. Nicht nur, daß mit der Verfügbarmachung des Fremden per Schnapp-Schuß kolonialistische Attitüden eingeübt werden - dem Touristen wird das Sehen geradezu abgewöhnt. Der Wunschkonsument dieser Art Reiseliteraturindustrie ist ein Zombie, ein Untoter, der dem Voodoo-Befehl seines Führers gehorcht: "Der schönste Blick ergibt sich von der Nord-Ost-Ecke mit einem Weitwinkelobjektiv."
Es ist schon ein Nachdenken wert, daß diese Bücher in unser Sprache ReiseFührer heißen. Insidertips, Tripvorschläge und geführte Routen spekulieren mit der Angst des Touristen vor der Fremde und gaukeln zugleich vor, sie nehmen zu können. Den Gipfel der Groteske markiert in dieser Hinsicht ein Antarktis-Reiseführer, der einerseits davon abrät, dorthin zu reisen, andererseits jede Menge "Insidertips" aus dem Innern des Eises präsentiert, nach dem Schema: Wenn Sie in Nebel geraten, rühren Sie sich nicht von der Stelle und rufen Sie laut um Hilfe.

Subkulturen der Verblödung
Dies sind, zur Abschreckung, Beispiele allerschlimmster Gängelung. Viel wichtiger scheint mir, gegen die subtileren Formen von Bevormundung und Abrichtung zu kultureller Überheblichkeit anzugehen. Diese Strukturen aufzudecken, ihre materielle und mentale Basis zu klären und die herrschenden Klischees und Strukturen der Verblödung, Entmündigung und Beduselung zu überwinden, wäre eine Aufgabe.
Denn, einmal abgesehen davon, daß die Tourismusindustrie auf die Dauer mit dem verblödeten Zombie als Kunden auch nicht weiterwirtschaften kann, es ist auch ein moralisches und politisches Gebot, angesichts von Fremdenfeindlichkeit, Kriegswirren und wachsendem Nationalismus die emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zur Öffnung für Fremdes und zur Infragestellung des Eigenen zu trainieren.
Zwischen diesem Ethos und der Wirklichkeit des Reiseschriftstellertums gähnen Abgründe aus wirtschaftlichen Zwängen und intellektuellen Vorurteilen. Zwar wird allgemein lamentiert, daß die deutschen Reiseschriftsteller den englisch schreibenden nicht das Wasser reichen können, aber praktisch wird zur Förderung einer Kultur der Reiseschriftstellerei wenig getan. Die wenigen grünen Pflänzchen wachsen entweder in den Nischen kleiner Verlage oder sind - so bei Suhrkamp, Hanser und mit etwas mehr Wagemut bei Klett-Cotta - gekoppelt an große Schriftstellernamen. Nie hätte der Hanserverlag Joseph Brodskys Bücher über Venedig und St. Petersburg verlegt, wenn nicht der Nobelpreis des Autors ein Minimum an Interesse und Auflage gewährleistete. Nicht nur Cees Nooteboom, auch andere, nicht so bekannte holländische Reiseschriftsteller haben ihre Reisen mit finanzieller und ideeller Unterstützung von Zeitschriften und Magazinen durchgeführt, die ein Interesse daran hatten, daß ein Autor die sich immer wieder verändernden Planquadrate der Wirklichkeit bereist und beschreibt. Ein Condé-Nast, der wie früher die National Geographic Society die literarische Entdeckung der Wirklichkeit finanzierte, ist im Hochglanzdschungel deutscher Holidaybroschüren kaum denkbar. Hierzulande regieren - Ausnahmen bestätigen die Regel - oft höchst subjektivistische Redakteurs- und Verlegervorstellungen von dem, was dem Publikum zumutbar ist, und mit welchen Themen man die Auflage nach vorn puschen kann, den Schreiber-Alltag. Können, Wissen, Erfahrung und stilistische Fähigkeiten von Autoren werden durch die Verlagsverhältnisse jedenfalls kaum gefördert, meist sind sie, wenn überhaupt, an letzter Stelle gefragt. Die Verleger, die, vor die Wahl zwischen einem weiteren überflüssigen Bodensee-Buntbildband und einem individuellen, selbstironischen und reflektierten Reisebericht gestellt, sich für letzteren entscheiden, sind rar. Die Folge: statt Eigenart und Eigensinn auszubilden, hechelt das Gros der Reiseautoren hinter Bebilderungsaufträgen her.
Es gibt nur eine Unterabteilung der Reiseliteratur, die boomt: die Berichte von sogenannten Reiseabenteuern. Auf sie trifft die Bemerkung Tucholskys, daß die "Reisebeschreibung ist in erster Linie für den Beschreiber charakteristisch [ist], nicht für die Reise" , drastisch zu. Ihre Verfasser besitzen meist mehr Muskeln als Stil. Ihre Abenteuerwelt ähnelt oft einem Tunnel, der qualvoll, ohne Witz und bar jeder Selbstironie durchkämpft werden muß. An seinem Ende winkt schon die mittelständische Kleinfamilie, die der Abenteurer nie verlassen hat.

Geschärfte Sinne
Am liebsten würde ich die Philippika noch eine Weile fortsetzen, doch mir wird mit jedem Wort deutlicher bewußt, daß dies nur unausgesprochener Ausdruck der Ratlosigkeit wäre, die ich empfinde. Letztlich führen nicht Rundumschläge, sondern Verbesserungsratschläge weiter.
Bevor sich endgültig Melancholie breitmacht, möchte ich zum Schluß noch einmal Horst Krüger zitieren, der sich auch immer wieder gefragt hat, was die ganze Schreiberei und Reiserei denn sollen.
Nach all dem Gemähre ist es wieder so weit. Man steht im fremden Land, scharf aufs Neue: "Diese geschärften Sinne plötzlich, diese spitzen Ohren jetzt, wie ein Hund, der lauscht. Was hörst du denn? Was siehst du hier? So etwas wird immer bleiben. Es wird immer Menschen geben, die ausziehen, um von der Welt zu erzählen. Es wird immer Menschen geben, die sich zu Hause erzählen lassen. Die Welt ist zu groß. Sie ist ein Brunnen. Man kann ihn nicht ausschöpfen. Man kann seine Wasser nur kosten - becherweise. Wie schmeckt denn die Welt? Ich sage: immer anders, überall."