Tobias Gohlis über Norbert Horst: Splitter im Auge




Der „Steiger“: auf drei Ebenen

Fährte aufnehmen, ins Leben kommen

Norbert Horst:
Splitter im Auge


 

 

Der Sog des Authentischen

Mit dem „Steiger“ betritt Norbert Horst neue Ermittlungszonen

Leichensache – praktisch wie der Plastiksack, in dem die Opfer in die Pathologie transportiert werden, klang der Titel. Ton und Perspektive, die Norbert Horst 2003 in diesem ersten von bisher vier Romanen mit Kommissar Konstantin Kirchenberg anschlug, waren unerhört neu. Noch nie wurde der Leser so anscheinend unverstellt, so verstörend unmittelbar in die Ermittlung gezogen, mitschwimmend im Bewusstseinsstrom des Kommissars, eines ganz und gar nicht schlichten KHK aus dem fiktiven Ingsen/Westfalen. Norbert Horst, Kriminalhauptkommissar in NRW-Diensten, erhielt für dieses Debüt 2004 den Glauser und zwei Jahre später für Todesmuster  den Deutschen Krimipreis.

Der „Steiger“: auf drei Ebenen
Nach vier Romanen und drei Jahren Pause jetzt ein Neustart. Neuer Ermittler, identifizierbare Orte, multiple Perspektive: Splitter im Auge. Ein, zwei, drei Ebenen entfaltet die Erzählung. Ein mörderischer Bruderzwist, die planvolle Suche eines erfahrenen Entführers nach 14-15jährigen „Objekten“, der Alltag eines Kripomanns. Thomas Adam heißt er. Doch jeder nennt den berufsmüden, hin und wieder kiffenden, zur Einsatztruppe abgeschobenen Polizisten den „Steiger“. Sein Vater war einer der letzten Bergleute im Revier und hat auch ihm einen Bruderzwist hinterlassen. Erst bei der Testamentseröffnung erfährt Steiger vom Halbbruder aus einer Seitensprungliebe. Seine Reaktion: Personenabfrage. Bruder ist aktenkundig als Dieb und Hehler. Es sind kleine Details wie dieses, die den Sog des Authentischen speisen.

Fährte aufnehmen, ins Leben kommen
Die Einsatztruppe der Dortmunder Polizei, der der Steiger angehört, greift ein, wo sie halt gebraucht wird. Nachtschichten, Observationen, Festnahmen. Morgens macht sich Steiger mit Fernsehen wach. Zufällig, bei der Festnahme eines anderen Täters, entdeckt er im Treppenhaus eine Zeugin, die seinerzeit nicht zur Vernehmung erschienen ist. Der Fall ist bereits abgeschlossen. Obwohl kein Tatort identifiziert wurde, hat man einen Mann aus Burkina Faso als Mörder eines 15jährigen Mädchens verurteilt. Auch Steiger muss den Fall als erledigt ansehen, trotzdem – Bauchgefühl, Instinkt – wühlt es in ihm weiter. Seine Zufallszeugin spornt Steigers Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, trotz gegenteiliger dienstlicher Anweisung forscht er nach. Zwischen Nachlassregelung, Dauerdienst, Liebesdingen, Disziplinarverfahren und anderem Sperrmüll des Alltags rekonstruiert er die Geschichte des ermordeten und die anderer verschwundener Mädchen. Aus flacher Routine wächst ein übler Fall. Fährte aufnehmen, wieder ins Leben kommen. Unnachahmlich ist das, wie dieser Mann seine zermürbte Stärke wiedergewinnt. Das ist die Stärke des Romans. Am Schluss: überraschende, überraschend plausible Auflösung. Samt Showdown – eine überflüssige Referenz an Genrekonventionen. Trotzdem: eine Klasse für sich.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung DIE ZEIT Nr. 40 vom 29.September 2011