Tobias Gohlis überJoseph Kanon: In den Ruinen von Berlin




Das Loch im normierten Raum

Alle wurden zum Mitmachen gezwungen

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Joseph Kanon: In den Ruinen von Berlin.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann


Joseph Kanon: Die Tage vor Los Alamos.Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr

Joseph Kanon: Der verlorene Spion.
Aus dem Amerikanischen von Sonja Schuhmacher u. Barbara Steckhan

 

 

 

 

Der Himmel über Berlin: Voller Dollars

Die Stadt, in der ich vor 30 Jahren studiert habe, ist nicht wiederzuerkennen. Zwischen Gropiusbau und Potsdamer Platz dehnten sich damals, es waren die Siebziger des vergangenen Jahrhunderts, Ruinenfelder, wo Schäferhundebesitzer ihre Lieblinge über Holzwände springen und Puppen beißen ließen. Meine Tochter lernte auf einem Patrouillenpfad längs der Mauer laufen. Dort, wo heute die ausgegrabenen Keller der Gestapo an die Topografie des Terrors erinnern, quälten führerscheinlose Neulinge die unsynchronisierten Schaltungen ihrer Käfer auf einem ADAC-Übungsgelände. Am Potsdamer Platz in der Nähe unserer damaligen Wohnung wurde das einzige Gebäude, das den Krieg überlebt hatte, aus dem Weg gerollt, damit Sony und Debis Center simulieren können.
Wenn die Trümmer verschwinden, wird es Zeit, sich wieder an sie zu erinnern.

Das Loch im normierten Raum
Bezeichnenderweise sind es ausländische Autoren, die es zurückzieht an den imaginären Nullpunkt der Nachkriegsjahre. Das Stichwort gibt Alain Robbe-Grillet in Die Wiederholung. Auf der Fahrt nach Berlin hält der Zug in Halle (oder einer anderen Stadt im zerstörten Osten des Jahres 1949) und Robbe-Grillets Protagonisten Robin kommen die Trümmerlandschaften wie „eine Art Loch im normierten Raum“ vor. In den Ruinen Berlins dann, wo er im Auftrag einer obskuren Spionageorganisation den Mord an einem Wehrmachtsoffizier beobachtet, lösen sich die Wahrnehmungsparameter Zeit, Raum und Identität vollends auf, einzig verifizierbare Zeichen sind die Messinginitialen auf der Tür von Robins Mietwohnung: „J.K.“ Worunter Robin sich, ganz dem Möglichkeitsprinzip des Nouveau Roman entsprechend, vorstellen kann, „was du willst: Johann Kepler, John Keats, Jacob Kaplan“.
Wobei wir mit einem Gedankensprung bei Joseph Kanon wären, einem US-amerikanischen Autor, dem die Nachkriegszeit auch keine Ruhe lässt. In zwei subtilen und facettenreichen Romanen (Die Tage vor Alamos und Der verlorene Spion) ist Kanon den Ambiguitäten amerikanischer Weltkriegssiegermoral nachgegangen. Mit seinem jüngsten Werk, In den Ruinen von Berlin, hat er das Territorium, nicht aber das Thema gewechselt.
Auch Kanons Protagonist ist ein teilnehmender Beobachter. Als Reporter und Kriegsberichterstatter ist Jake Geismar vertraut mit den Maskierungen der Wahrheit. Der ehemalige Deutschlandkorrespondent, der bis Kriegsbeginn die US-Medien über Hitlers Deutschland unterrichtet hatte, ist nun, 1945, nach Berlin zurückgekehrt, um über die Potsdamer Konferenz zu berichten. Die „großen Drei“ werden so dicht abgeschirmt, dass Geismar daran zu zweifeln beginnt, dass die Konferenz überhaupt stattfindet. Deshalb schmuggelt er sich bei einem Fototermin ein. Während er im Garten des Schlosses Cäcilienhof versonnen Trumans gerippte Seidensocken betrachtet, wird am sowjetisch verwalteten Seeufer ein amerikanischer Soldat angeschwemmt. Als die Wachsoldaten die Leiche an Land hieven, reißt ein Beutel auf, den er bei sich trug. „Einen surrealen Moment lang hing der Himmel voller Geld.“

Alle wurden zum Mitmachen gezwungen
Es sind Tausende von Dollars, denen die russischen Soldaten nachstürzen wie apportierende Hunde, Zeichen der neuen Weltordnung. Bald entdeckt Geismar, dass sie als Einsatz in einem Schwarzmarkt-Deal der höheren Art dienen sollten. Ein Raketenwissenschaftler aus der Gruppe Wernher von Brauns soll damit ge- oder verkauft werden. Klar ist das nicht, genauso wenig wie alles andere.
Auf der Suche nach seiner ehemaligen deutschen Geliebten, nach deren Mann (dem Wissenschaftler) und dem roten Faden der verwickelten Intrige werden Menschenkenntnis und moralisches Urteil des Reporters aufs Äußerste gefordert. In den Trümmern Berlins trifft er beinahe ausschließlich Menschen, die vorgeben, in der Nazizeit zum Mittun, zum Verrat gezwungen worden zu sein. Das sagt die Jüdin, die untergetauchte Juden aufspürte, um ihr eigenes Leben (und vor allem das ihres Kindes) zu retten, das behauptet auch der Wissenschaftler, der die Ausbeutung der KZ-Häftlinge mathematisch optimierte. Und natürlich geht es um nicht weniger als das Überleben der freien Welt, wenn der Schreibtischkriegsverbrecher einen Freiflug ins Gelobte Land bekommt.
Kanon erzählt dies spannend, vieldeutig, ohne Didaxe. Unaufdringlich provoziert er den Leser, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, und ist im besten Sinne moralisch: Er zeigt, wie schwierig es ist, richtig zu handeln, zumal im Krieg und wenn es scheinbar nur noch die Wahl zwischen denen und uns gibt.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 04/ 2003 vom 15.1.03