Tobias Gohlis über Philip Kerr: Der Pakt




Gentleman und Philosoph, Professor auf dem Prüfstein

Spezialist für historische Spekulation

Separatfrieden oder Tod

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Philip Kerr: Der Pakt

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

 

 

Der kleine Mayer und das Große Spiel

"Alles um mich herum atmete Geschichte." In den Romanen Eric Amblers würden wir eine derartige Bemerkung nicht finden. Seine Helden machen Geschichte wie die meisten Leute — ahnungslos. Erst hinterher schlagen sie die Augen auf und erstaunen. Willard Mayers Odyssee beginnt in Philip Kerrs Der Pakt scheinbar offenen Auges aber dort, wo Geschichte nicht geatmet, sondern gemacht wird, im Red Room des Weißen Hauses. Mayer bringt beste Voraussetzungen mit, um dort zu sein.
Seine Philosophie passt zu Roosevelts Politik.
Der Präsident hat sich, es ist Oktober 1943 und die USA stehen seit zwei Jahren im Krieg, die idealistischen Vorstellungen seines "Grand Design" einer neuen Weltordnung gleicher freier Nationen abgeschminkt. Ihm geht es nicht mehr um die Hoffnung auf eine bessere Welt, sondern um die Organisation und den Einsatz der "realistischen Techniken und Mittel, die notwendig sind, um diese Hoffnungen in Realität umzusetzen", wie er 1943 dem Journalisten Forrest Davies ins Notizbuch diktiert.
Willard Mayer ist Mitarbeiter des Geheimdienstes OSS und spricht deutsch. Roosevelt will ihn als Sonderbeauftragten für alle Fälle zur Konferenz der Großen Drei nach Teheran mitnehmen. Außerdem hat Mayer ein philosophisches Buch geschrieben, das dem Präsidenten gefallen hat. Es heißt "Der empirische Mensch", und Mayer verabschiedet sich darin von einer normativen zugunsten einer pragmatischen, rein auf Erfahrung beruhenden Moral.

Gentleman und Philosoph, Professor auf dem Prüfstein
Die Erfindung dieses Gentleman-Philosophen der Erfahrung ist einer der netten erzählerischen Einfälle in Philip Kerrs neuem Roman Der Pakt. Denn Willard Mayer wird den Weg, den er mit dem Wechsel vom Professorensessel in Princeton zum Bürostuhl beim Geheimdienst eingeschlagen hat, bis zum bitteren Ende in Teheran gehen. Er wird auch erkennen, wie realistisch der Präsident tatsächlich ist, und er wird vor allem erfahren, wie weit er selbst geht. Denn eh er sich versieht, landen seine in der stillen Stube ausgetüftelten Theoreme auf dem Prüfstand, so ist der Krieg. Das Ergebnis ist — ohne allzu viel vorwegzunehmen — keineswegs überraschend: Konfrontiert mit einem Attentäter bricht aus dem Pragmatiker der Gutmensch hervor, und der rettet im spontanen Reflex und wider alle Vernunft einem Massenmörder das Leben.

Spezialist für historische Spekulation
So weit spannt Kerr also den inneren Seelen-Bogen seines Helden. Doch das äußere Geschehens ist nicht minder dramatisch. Kerr ist im Thrillergenre der Spezialist für historische Spekulation. In Der Pakt greift er den merkwürdigen Umstand auf, dass Roosevelt tatsächlich während des ersten persönlichen Treffens der Großen Drei 1943 in Teheran von der amerikanischen in die bunkermäßig gesicherte sowjetische Botschaft sozusagen unter den Schutzschirm Stalins umzog. Angeblich, um einer Verschwörung zu entgehen, die der NKWD aufgedeckt hatte.

Separatfrieden oder Tod
Kerr verknüpft nun diverse, teil offen erzählte, teils erst durch Mayers Spürsinn entdeckte Anschlagsvorbereitungen auf die Konferenz mit der durchaus wahrscheinlichen Bedrohung des Zusammenhalts der Allianz durch einen Separatfrieden. Um nur einen der zwischen Fiktion und Fakten changierenden Doppelhandlungsstränge anzudeuten: Während Himmlers Masseur in Stockholm mit dem amerikanischen Sonderbeauftragten Hewitt an den Bedingungen einer keineswegs bedingungslosen Einstellung der Kriegshandlungen bosselt, bereitet sein Brigadeführer Schellenberg eine Luftlandeoperation à la Skorzeny im Iran vor.
Währenddessen schwimmt Willard Mayer mit dem Präsidenten auf dem Ozean. Auf der USS Iowa studiert er Berichte über die Kriegsverbrechen der Sowjets in Katyn (wo sie 1939 4000 polnische Offiziere massakrierten) und in Beketowka (wo 1943 tausende deutscher Kriegsgefangener umkamen). Dieses Wissen lässt Zweifel in der amerikanischen Verwaltung aufkommen, ob man nicht den schlimmeren Massenmörder zum Verbündeten hat. Mehr als genug Stoff also für spannende Spionageverwirrung und moralische Dispute. Am Ende des von Kerr lustvoll zelebrierten Großen Spiels bleiben zwei merkwürdig aktuelle Einsichten: Dass selbst der, dem alle Fakten vorliegen, zwangsläufig ein Faktum übersieht – und dass moralische Entscheidungen immer nur von Einzelnen getroffen werden. Letztere beschert dem kleinen Mayer einen heroischen Abgang.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 33 vom 10.8.2006