Tobias Gohlis über Philip Kerr: Der Tag X




Der Tag, an dem Kennedy starb

Hitman wird eifersüchtig

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Philipp Kerr: Der Tag X
Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von-der-Tann

 

 

 

 

Tom Jefferson plant Anschlag auf Kennedy

Es gibt Schocks, die so gewaltig sind, dass sie noch nach Jahrzehnten Herzen und Verstand in Aufruhr versetzen. Vor den Bildern der brennenden und zusammenstürzenden Zwillingstürme in Manhattan waren es die grobkörnigen Fotos eines Amateurs, die die westliche Welt erschütterten. Sie dokumentierten den Augenblick, in dem John F. Kennedy erschossen und der strahlende Held in einen Mythos verwandelt wurde.

Der Tag, an dem Kennedy starb
Auch jener 22. November 1963 war ein Tag, seit dem nichts mehr so war wie vorher. Die Ermordung des Präsidenten der Vereinigten Staaten erschütterte das Selbstbewusstsein von Gottes eigenem Land und offenbarte seine Zerrissenheit. Zweifel an der Alleintäterschaft Lee Harvey Oswalds begründeten und verstärkten das Misstrauen gegen FBI und CIA. So, wie seit der folgenden Aufdeckung von Kennedys Sexeskapaden und der Verbindungen seiner Familie zur Mafia amerikanischen Präsidenten privatmoralisch das Schlimmste zugetraut wird, standen auch die Sicherheitsorgane des Staates spätestens seit seiner Ermordung unter Verdacht, als Staat im Staate potenzielle Horte des Bösen und übler Verschwörungen zu sein. Von diesem unauslöschbaren kollektiven Misstrauen, der durch Autoren wie James Ellroy oder Don DeLillo und Regisseure wie Oliver Stone genährt wurde und wird, zehrt nun auch der Engländer Philipp Kerr in Der Tag X auf höchst raffinierte Weise.

Hitman wird eifersüchtig
Das Milieu scheint höchst vertraut. Im Südstaaten-Dunst der Rassisten, Mafiabosse, Exilkubaner, männlichen und weiblichen Huren, der Agenten und Verräter werden Rache- und Hinrichtungspläne, Attentate und Strafaktionen ausgebrütet wie Alligatoreneier. Tom Jefferson ist Hitman, Spezialist für saubere Fernschüsse und körpernahe Messerarbeit. Kerr stellt ihn klassisch vor: bei der Vorbereitung eines Präzisionsschusses. Jüdische Mafiabosse haben den freiberuflichen Killer beauftragt, in Buenos Aires einen Nazikriegesverbrecher zu erledigen. Sein Folgeauftrag, wiederum gesponsert von Mafiagangstern, denen der Verlust ihrer kubanischen Spielhöllen einfach zu nahe geht, ist eine Machbarkeitsstudie für die CIA: Wie wären die Castrobrüder Fidel und Raúl auszuschalten?
Unter den zusammengetragenen Informationen findet Jefferson ein Tonband aus einer Abhöraktion gegen den Präsidentschaftskandidaten. Die aufgenommenen Lustlaute stammen von JFK und - Wut kommt auf - Tom Jeffersons lieber Ehefrau. Worauf der Killer die Seite wechselt. Während seine Auftraggeber ihn noch auf der Castrospur wähnen, geht er den Weg privater Rache. Hierzu ein Insider aus dem Weißen Haus: "Promiskuität und Sicherheit gehen nicht zusammen." Nach und nach entdecken die Leser, die Geheimdienste und die Mafiabosse, dass der gehörnte Jefferson Kennedy, inzwischen knapper Sieger der Präsidentschaftswahl, noch vor seiner Inauguration umlegen will.
Blinde Eifersucht kann so gut wie jedes andere Motiv für Verschwörungen und Intrigen genutzt werden. Ist Jefferson wirklich Herr seiner Rachsucht? Wird ihm der Anschlag gelingen? Philipp Kerr ist ein Meister der historischen und psychologischen Spekulation. Fast so intensiv wie der frühe John Le Carré taucht er in die Gefühlswelt der Killer und Agenten ein, mindestens so raffiniert ist der Plot. Zum Schluss beginnt der Leser an der einzigen Tatsache zu zweifeln, die für ihn bisher feststand. Kennedy wurde am 20.1.1961 als 35. Präsident der USA vereidigt und starb im November 1963 - oder nicht?

Unredigiertes Manuskript, erschienen in DIE ZEIT Literaturbeilage Oktober/2001