Tobias Gohlis über Jirí Kratochvil: Das Versprechen des Architekten




Surrealismus, Phantastik und Kriminalliteratur

Architekten wollen
bauen

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Jirí Kratochvil:
Das Versprechen des Architekten

Aus dem Tschechischen von Julia Hansen-Löve u. Christa Rothmeier

 

 

 

 

 

Láska heißt Liebe

Jirí Kratochvil errichtet in Brünn ein Gefängnis der Glückseligen

Lassen wir uns nach Brünn versetzen, in die Haupstadt Mährens, wo der Mathematiker Ernst Mach geboren wurde, der Biologe Gregor Mendel forschte und der Architekt Kamil Modrácek baute. Modrácek war einer der bedeutendsten Architekten Europas. Wäre er nicht mit einem Sarg, einem Priester und einer tiefgefrorenen Leiche in einen Steinbruch gefahren — das war ca. 1953/54 — und nach der Explosion des Tanks seines Škoda Popular verbrannt, würde man ihn feiern wie Mies van der Rohe, dessen Brünner Villa Tugendhat zwar zum UNESCO-Kulturerbe gehört, aber zur Zeit für Besucher geschlossen ist.

Surrealismus, Phantastik und Kriminalliteratur
Kenntnis von Modráceks Lebenswandel und Ideen erhalten wir aus einem ganz wundersamen Buch, das drei funkelnde Literaturstränge vereint: den Surrealismus, die tschechische utopische groteske Phantastik und die Kriminalliteratur. Dass es sich um ein vorzügliches Exemplar von Kriminalliteratur handelt, ist sofort erkennbar. Das Versprechen des Architekten spielt nämlich in bekannt kriminellen Zeiten: während der Naziherrschaft, als Brünn zum „Protektorat Böhmen und Mähren“ gehörte, in den frühen Jahren des Stalinismus (noch ganz ohne menschliches, aber mit mährischem Antlitz) und in den heutigen kapitalistischen.
Jirí Kratochvil, den Milan Kundera zum „größten Ereignis der tschechischen Literatur nach 1989“ erklärt hat, schreibt eigentlich immer über Brünn, Literatur (hier etwa über eine Erzählung von Nabokov, die Modrácek zur experimentellen Erforschung dessen, was wir seit 1973 „Stockholm-Syndrom“ nennen, inspiriert hat) und über Geschichte als Folge von Absurditäten.

Architekten wollen bauen
Vom Abstrakten zum Konkreten. Kamil Modrácek will eigentlich nur eins: Bauen. Und zwar die tollste Villa aller Zeiten. Aber er hat eine Schwester, eine Künstlerin. Immer druckt sie Flugblätter, erst gegen die Nazis, dann gegen die Sozis, weshalb er sie immer retten muss. Also baut Modrácek dem SS-Gruppenführer von Brünn honorarfrei eine Villa - mit dem Hakenkreuz als Grundriss. Als die Schwester dann im sozialistischen Knast umkommt, weil ein Polizist scharf auf ihre Villa ist, baut er wieder. Im Keller seines Hauses modelt Modrácek die Zuflucht deutscher Bourgeois, die dort vor der Vertreibung ihre Wertsachen liegen ließen, in ein Gefängnis um. In dessen Zentrum steht der goldene Käfig eines Zirkusbären. Darin wird der Polizist lebenslang eingesperrt, der den Tod der Schwester verschuldet hat. Das hat Modrácek sich geschworen. Doch bei dem einen Gefangenen bleibt es nicht. Nach und nach entführt er 21 Personen in dieses unterirdische Phalanstère. Abgeschottet von der Wirklichkeit, tief unter der Gegenwart, in der die sozialistische Utopie immer gefängnishaftere, banalere und ärmlichere Gestalt annimmt, errichtet Modrácek eine Keller-Insel der Glückseligen. Während er den Gefangenen Vorträge über den egalitären, weil horizontalen Baustil der Brünner Architektur hält, lauern sie auf eine Gelegenheit zum Ausbruch oder auf Geheimpolizist Láskas Lebensende. „Láska“ heißt Liebe, und das ist keineswegs die einzige Pointe dieses komischen, überraschenden und architekturkritischen Buchs.

Unredigiertes Manuskript, veröffentlicht in DIE ZEIT Nr. 29 vom 14.7.2010