Milieu der Verklemmten, Aufbrausenden,
Selbstgerechten
Erfahrung macht klug
Und dann noch die Wölfin
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Åsa Larsson: Weiße Nacht
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
Sonnensturm, der erste Band der Reihe um Rebecka Martinsson,
wurde in Schweden als bestes Krimidebut ausgezeichnet.
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Das Krimi-Gen sitzt in Kiruna
Diese Schweden! Besitzen sie ein Krimi-Gen, das andere nicht
haben? rätselte kürzlich eine Wiener Kritikerin über dieses Volk, dem
die Mordphantasien nicht ausgehen. Sie haben eins, und bei Åsa Larsson
kann man klarer als bei den meisten anderen verorten, wo es sitzt. In
Kiruna nämlich, weit nördlich des Polarkreises. Kiruna – das ist Weite,
Leere, Nordlicht, Mittsommerhelle. Kiruna ist die größte Stadt Schwedens.
Auf knapp 20.000 Quadratkilometer kommen 23.000 Menschen, das kann man
sich nicht vorstellen. "Sehr verwundbar sind sie dort, hart, und
stolz auf ihre Arbeit," charakterisiert Åsa Larsson die Nordleute.
"Die Männer sind leicht am Wasser gebaut."
Milieu der Verklemmten, Aufbrausenden,
Selbstgerechten
Dort hat im 19. Jahrhundert der Biologe Lars Levi Laestadius, der "Apostel
der Samen" eine Freikirche gegründet, die sich nach ihm nennt. Wenn
der Geist über die Gläubigen kommt, reden sie in Zungen, und wenn der
Glaube und die Selbstgerechtigkeit überhand nehmen, dann brechen sie auf
und bestrafen die Unbußfertigen. Sie töten den Gendarmen und den Kaufmann
und misshandeln den Pfarrer. 1852 geschah das, und wenn man die Kriminalromane
von Åsa Larsson liest, rückt einem diese Vergangenheit dicht auf die Pelle.
Unheimlich dicht. Denn sie spielen im Milieu dieser Verklemmten, Aufbrausenden,
Selbstgerechten aus den protestantischen Freikirchen, in denen die Macht
der Gottesmänner über ihre Brüder und Schwestern grenzenlos scheint. Selbstverständlich
Männer: In Sonnensturm (2003 auf schwedisch, 2004 auf
deutsch) sind es drei Pastoren, die die "Kraftquelle" —
so heißt ihre Gemeinde — mit Charisma, moralischer Erpressung und
geschickt gewähltem Gotteswort betreiben. Bis ihr Apostel, ihr "Paradiesjünger",
der schöne Viktor Strandgård mit den langen blonden Haaren ohne Hände
und Augen in einer Blutlache auf dem Boden der neu errichteten Kirche
liegt. Zu Hilfe gerufen von der unendlich anämischen Schwester des Ermordeten
kehrt Steueranwältin Rebecka Martinsson, eine verlorene Tochter, aus der
Hauptstadt in das Gebiet der frommen Männer zurück. Mit ihr nehmen wir
halb angewidert, halb fasziniert eine Welt aus christlichem Fundamentalismus,
Pharisäertum, Heuchelei und echtem Glaubenskampf in Augenschein, von deren
Existenz wir nur aus alten Büchern gehört haben. Bücher etwa, wie sie
ein Jeremias Gotthelf aus der abgeschiedenen, spukbesessenen Welt Schweizer
Bergtäler ans Licht hob.
Erfahrung macht klug
Wie dieser die soziale und geistige Armut seiner Gebirgler, so hat auch
Åsa Larsson die Enge des Sekten- und Freikirchenwesen am eigenen Leibe
erfahren. Ihre Großeltern waren strenge Laestadianer. Ihre Eltern konvertierten
zum Kommunismus, und sie — "Wie protestiert man gegen kommunistische
Eltern?" - schloss sich als Jugendliche wieder einer Freikirche an.
Ihrer intimen Kenntnis des Nordens und der Sektenwelt entspringen eindrücklich
gezeichnete Charaktere. Unvergesslich das zarte Schwestergeschöpf, das
von patriarchalen Autoritäten zermürbte Weibchen Sanna in Sonnensturm.
Ebenso eindringlich die Pastorin Mildred Nilsson, die im gerade erschienenen
zweiten Band Weiße Nacht als besserwissende, besser manipulierende,
besser intrigierende und Gott nähere Konkurrentin den Hass der alteingesessenen
Kirchenmännerwelt auf sich zieht. Als feministisch selbstgerechter Katalysator
demoliert sie die ehrbaren Fassaden, hinter denen die Mitglieder der altväterlichen
Jäger- und Kirchengemeinde ihre Versagensängste verbergen – bis geschieht,
was geschehen muss. Zerschlagen und ausgeblutet hängt die Pastorin an
der Empore ihrer Kirche, gegenüber die Statuen des Predigers Laestadius
und seines Samenmädchens Maria. Irgendjemandem hat sie einmal zuviel Vorschriften
gemacht.
Und dann noch die Wölfin
Wieder ermitteln Rebecka Martinsson und die lebenskluge Kriminalbeamtin Anna Maria Mella getrennt und gemeinsam. Immer deutlicher wird, dass diesen schwachen, heuchlerischen, narzisstischen Männern irgendwann nur noch der Mord als Ausweg blieb, wenn sie ihre Welt zusammenhalten wollten. Wer von ihnen es dann tatsächlich war, spielt kaum noch eine Rolle. Åsa Larssons Bücher sind kleine Wunder: genau, einfühlsam und ohne Häme zeichnet sie die innere Enge, die Lebenssuche ihrer Nordleute in dieser ungeheuren Weite. Doch am besten hat mir die eingewobene Tiergeschichte von der Wölfin Gelbbein gefallen, die, verstoßen von ihrem Rudel aus der finnischen Nordmark nach Norbotten einwandert – eine poetische Miniatur, die doch ihren genauen Platz im Kriminalgeschehen hat.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in
DIE ZEIT Nr. 29 vom 13.7.2006
Siehe auch: Tobias
Gohlis über Åsa Larsson: Bis dein Zorn sich legt
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