Tobias Gohlis über Krimi in der Krise



 

 

Lasst den Krimi frei!

Unterhaltung versus Aufklärung – wie das blind repetierte Schema des Detektivromans zur kollektiven Verblödung beiträgt

Um den Krimi muss man sich keine Sorgen machen. Oder? Die Verlage verzeichnen Zuwachszahlen wie lange nicht, mindestens jeder dritte Euro im Belletristikmarkt wird mit Krimi gemacht, fast kein Verlag mehr, der unter seinen Lyrikern und Prosaisten nicht ein paar Krimischreiber als cash cows weiden lässt. Nimmt man Film und Fernsehen dazu, scheint der Boom unaufhaltbar. Doch winkt in seinem Schatten gespenstisch die Blase.

Soll keiner behaupten, dass der Krimiboom nicht mit kollektiven Krisenbewältigungsmechanismen zu tun hat. Die Bürger, die stoisch, angststarr oder apathisch tagtäglich neue Bedrohungsszenarien an sich abrieseln lassen müssen, trainieren prophylaktisch ihre Panikmuskulatur, indem sie sich aus der Bahnhofsbuchhandlung oder aus dem TV Geschichten holen, die vom unerwarteten Einbruch des Entsetzlichen in die Idylle handeln. Je unwahrscheinlicher, je weniger in der persönlichen Wahrnehmungswirklichkeit verankert diese Attacken des Bösen, desto größer die vorübergehende psychische Entlastung einerseits, desto höher Quoten und Verkaufszahlen andererseits. Je suspekter den verschreckten Staatsbürgern das Agieren der ihr Schicksal dirigierenden Politiker wird, desto strukturierter und überschaubarer scheinen ihnen die bizarren Bedrohungen, die von psychopathischen Serienmördern ausgehen. Diese Monster in der Tarnung menschlicher Gestalt rauben Augen und Kinder, metzeln unschuldige Leiber, vernichten intakte Familien und finden zuletzt ihrer Bestialität entsprechend ein blutiges, aber gerechtes Ende auf der falschen Seite einer Axt oder - beruhigender - einer Dienstwaffe.

Das kollektive Erleben von Spannung und Entspannung funktioniert durch die ständige Wiederholung und Bestätigung eines Basisschemas, an dem die quoten- und renditeorientierte Krimiproduktion gnadenlos festhält, angeblich, weil das Publikum es so will. Einer der Gründe, warum das so scheint, liegt darin, dass das Publikum über Alternativen zum Mainstream wenig informiert wird. Bereits in der Schule wird Krimi als überschaubares, leicht zu begreifendes Erzählschema unterrichtet. (Weshalb heute viel zu viele Leute glauben, man könne mal so nebenbei einen Krimi schreiben.) Dabei ist das Schema nur die eine Seite der Angelegenheit. Das, was den Krimi über 150 Jahre lebendig und spannend gehalten hat, war die immer wieder erneuerte und variierte Reaktion der Autoren auf ihren Gegenstand, das Verbrechen. Chandlers Forderung, Morde von realen Verbrechern unter wirklichen Verhältnissen zu beschreiben, war beispielsweise die Begleitmusik zur Innovation des Genres durch die Hard-Boiled Detective-Novels. Erschütternde, bewegende Kriminalliteratur entsteht durch einen neuen Blick auf die verborgene, meist verdrängte und geleugnete Welt des Verbrechens. Friedrich Glauser öffnete die Horrorwelt geschlossener Anstalten, Patricia Highsmith thematisierte die Traumata psychischen Außenseitertums. Don Winslow zeichnete den war on drugs als komplexes Staatsverbrechen. Gerade dort, wo die staatliche Jurisdiktion nicht hinreicht, liegt die erzählerische Zukunft einer aufklärerisch-investigativen Kriminalliteratur – seien es die Seelenverwerfungen der Vereinsamten, die Friedrich Ani beschreibt, seien es die Machinationen der geheimen Welt, die John le Carré, gerade achtzig geworden, unermüdlich seziert. Gute Kriminalliteratur war niemals Schema, sie ist Thema. Schema – das ist der gefesselte Detektivroman, wie man ihn früher bezeichnete. Lasst den Kriminalroman endlich frei!

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Krimi-Spezial vom 3. November 2011 unter dem Titel »Immer diese Leichen«