Tobias Gohlis über Das Reisebuch des Ritters John Mandeville




Quintessenz abendländischen Reisedenkens

Kopflose und Yetis

dass man um die Welt herumfahren kann

 

 

 

 

 

Einmal um die Welt

Das Reisebuch des Ritters John Mandeville

Nachdem John Mandeville die ganze Welt gesehen hatte, zog er sich zurück auf verlorenes Feld und schrieb. So ist es auf seinem Grabstein vermerkt: am 7. Februar 1372 starb er als "Besitzer von Champs-Perdu". Geheimnisvoll und anspielungsreich wie die Grabinschrift waren auch sein Leben und Werk. Bis heute hat die Wissenschaft nicht einmal das Rätsel seiner Person lösen können. War Jean Mandeville identisch mit dem Lütticher Notar Jean d'Outremeuse oder stammte John de Mandeville aus Essex? Er selbst gab an, der Ritter Johannes de Monte Villa zu sein, gebürtig aus St. Albans nördlich von London, doch blieb dies ebenso unbewiesen wie seine Behauptung, 35 Jahre lang alle Weltgegenden bis China und Indonesien bereist zu haben.
Fest steht aber, dass das von ihm oder einem (oder mehreren) anderen verfasste Reisebuch des Ritters John Mandeville eines der einflussreichsten Reisebücher der Welt ist. Bereits vor Erfindung der Druckkunst war sein, wohl erstmals um 1366 erschienenes Buch ein Bestseller. Um 1400 war es in alle bedeutenden Volkssprachen Europas übersetzt und noch heute sind über 250 handschriftliche Fassungen erhalten.

Quintessenz abendländischen Reisedenkens

Für mich ist Ritter Mandevilles Fahrtenbuch das Buch der Bücher, die Quintessenz unseres abendländischen Reisedenkens. Alles, was ein Reiseliteratur überhaupt an Empfindungen wecken kann, ist auf diesen 260 Seiten zu finden: das Grauen der Verlassenheit und die Schrecken unbekannter Landschaften, das Entzücken an der Schönheit des Neuen und die illusionäre Begeisterung über die begrifflich erschlossene Fremde. Mandeville weiß um die Gemeinschaft der Reisenden und die Erlösung der Heimkehr. Sein Reiseliteratur ist Enzyklopädie und Märchenbuch, geographische Vision und Forschungsbericht, es entfaltet alle Dimensionen der dem Reisen vorauseilenden Phantasie. Zusammengehalten werden die rund 200 Kurzbeschreibungen von Orten, Gewohnheiten und Sensationen durch die Zauberformel jedes Reiseberichts: "Ich habe alles selbst gesehen".
Und was hat Mandeville nicht alles gesehen und erlebt! Auf dem Weg nach Jerusalem, wohin sich jeder anständige Mittelaltermensch sehnte, fand er in Konstantinopel den Badeschwamm, mit dem Jesus Essig und mit Galle verabreicht wurde; in Zypern analysierte er die Hölzer, aus denen das Kreuz Christi bestand und selbstverständlich besichtigte er nicht nur das Grab Jesu und Johannes des Täufers, sondern auch die Höhle, in der sich Adam und Eva verbargen, nachdem sie aus dem Paradies vertrieben waren. Auch vom Paradies selbst kann er berichten, aber nur vom Hörensagen, denn leider ist selbst er dorthin nicht gelangt.

Kopflose und Yetis

Was Mandeville vom Paradies schreibt, entspringt den gleichen Quellen wie das meiste, was er über Länder und Leute, Tiere und Pflanzen kompiliert hat: den antiken Klassikern, die auch schon von Menschen ohne Kopf, von Einfüßlern, die ihr Gehwerkzeug als Sonnenschirm benutzten, von Pferdefüßigen und anderen Monstern zu berichten wussten. Mandeville beschrieb die Sehnsuchtsorte seiner Zeit: Jerusalem und das weltliche Paradies des Priesterkönigs Johannes, aber er ging weit darüber hinaus. Nachdem er Jerusalem, den Mittelpunkt der Welt, verlassen hat, greift sein Unternehmen weit und wild aus: aus allen Windrichtungen hat er das geographische Wissen seiner Zeit zusammengetragen. Jahrhunderte dauerte es, bis man allen seinen Geschichten nachgereist war. Die Kopflosen etwa verflüchtigten sich im Zuge der Entdeckungen von Asien nach Südamerika, wo sie Walter Raleigh ebenso gewiss ausfindig machte wie Eldorado und die Amazonen. Die Menschen hingegen, die ihre Toten auf Felsen bestatten und von Vögeln fressen lassen, wurden tatsächlich wiederentdeckt, nicht dort, wo Mandeville sie lokalisierte, aber doch in der Weltgegend. Und Reinhold Messner glaubt, jetzt endlich den Yeti identifiziert zu haben.

dass man um die Welt herumfahren kann

Die historisch bedeutsamste Wirkung erzielte Mandeville mit der Geschichte von dem Mann, der immer weiter ostwärts zog, bis er auf eine Insel stieß, wo er wider Erwarten "seine Sprache von einem hörte, der Ochsen auf die Weide trieb. Und er wunderte sich darüber, wie das möglich sei. Da war er so weit über Wasser und über Land gefahren, dass er wieder in seine Heimat gekommen war. Aber er wusste das nicht und kehrte wieder um." Nicht nur für Mandeville war dies der Beweis, dass man die Erde umrunden konnte, ohne von der unten liegenden Seite der Kugel, wo die "diejenigen leben, die ihre Füße denjenigen zugekehrt haben, die im Norden leben", ins Nichts hinabzustürzen. Sein Buch war das wahre Ei des Kolumbus: Der Amerikaentdecker trug es immer bei sich und hielt seinen skeptischen Widersachern Mandevilles Schlussfolgerung entgegen: "Deshalb sage ich wie zuvor, dass man um die Welt herumfahren kann."
Ungebrochen ist Mandevilles literarischer Zauber: von der nüchternen Sprache des Geographen, die das Unwahrscheinliche glaubhaft und erreichbar erscheinen lässt, bis zum apokalyptischen Prophetendonner und zum Märchenton beherrscht er alle Register. Indiana Jones und Janoschs Panamareisende sind nur zwei seiner unzähligen Geisteskinder. Auch war Mandeville durchaus kein Fremdenhasser. Mit wachsender Entfernung von Jerusalem wurde seine Einstellung immer toleranter. Sein Buch endet schön europäisch und universalistisch: "Item, obwohl es viele Arten von Glauben in der Welt und in verschiedenen Ländern und Inseln gibt, so glauben sie doch alle an Gott, der alle Dinge erschaffen hat, wenn sie auch nicht vollkommen in der christlichen Form daran glauben." Leider ist die schöne Lese-Ausgabe, die 1989 im Insel-Verlag erschienen war, vergriffen; wer Mandeville besitzen will, ist zur Zeit auf die Faksimile-Ausgabe der Volksbücher von 1480/81 angewiesen.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 33 12.8.1999