Tobias Gohlis über Patricia Melo: Leichendieb




Destabilisierung

Irritierte Reaktionen

Leichendiebe voll des Mitempfindens

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Patricia Melo: Leichendieb

 

 

 

Ein Häuschen mit Kuh – und wie man da drankommt

Vorwort zum Kultkrimi "Leichendieb" von Patricia Melo in der Büchergilde Gutenberg

Der namenlose Ex-Geschäftsführer eines Callcenters, aus dessen Perspektive Leichendieb erzählt wird, ist sich ganz sicher: Er wird nicht zu den Leuten gehören, die sich „reihenweise ihr Leben“ versauen. „Alles unter Kontrolle, Over“ ist sein Lieblingsspruch für jede Gelegenheit. Sprüche machen diesen Mann. Er besteht aus nichts anderem. Der Kerl ist eine Luftblase aus Phrasen. Geld, tönt er, ist ihm eigentlich „scheißegal“. Im nächsten Satz schon korrigiert er: „Ich wollte nur genügend, um eine Weile nicht mehr arbeiten zu müssen.“ Und: „Gefunden ist nicht gestohlen, besagte schon das Sprichwort.“ Wird er seine Phrasen bis zum bitteren Ende dreschen können oder wird ihm das Leben doch noch das Maul stopfen? Diese Frage gibt Patrícia Melos Roman seinen subkutanen und subversiven Drive.
Leichendieb ist der sechste Roman Patrícia Melos, der ins Deutsche übertragen ist. Als er auf der Frankfurter Buchmesse 2013 mit dem Liberatur-Preis ausgezeichnet wurde, spöttelte Laudator Thomas Wörtche, zwei Romane der Brasilianerin seien wohl nur deshalb nicht übersetzt worden, weil Brasilien zu der Zeit nicht Gastland der Messe gewesen sei. Wie immer, wenn sich ein Autor oder eine Autorin nicht fest in die Schublade eines Genres pressen lassen, hatte es auch Patrícia Melo mit ihren deutschen Kritikern nicht einfach. Allein die Frage, ob es sich bei ihren Romanen über Frauenmörder und Stadtneurotiker (Ich töte, Du stirbst (1)), Auftragskiller (O Matador (2)), über die Karriere eines Drogenbosses (Inferno (3)) oder einen sadistischen Dirigenten (Schwarzer Walzer(4)) um Krimis oder doch eher um Gesellschaftsromane handelt, verursachte das eine oder andere klassifikatorische Magendrücken. Erfahrene Kultkrimi-LeserInnen fahren da besser: Sie wissen, dass Kriminal-Literatur dem Schema F nicht gehorcht und nicht gehorchen kann, es sei denn auf parodistische oder anderweitig intertextuell spielerische Weise. Sie rechnen damit, überrascht zu werden und erwarten keine Detektiv- oder Kommissarspielchen à la Tatort.

Destabilisierung
Diese Art der Darbietung findet man  bei Patrícia Melo, geboren 1962 in Assis im brasilianischen Bundesstaat São Paulo, ganz und gar nicht. In Wer lügt, gewinnt (5) bildet die Vergackeierung des traditionellen englischen Rätselkrimis und speziell der Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten von S.S. van Dine, nach denen sich vorgeblich ein korrekter Kriminalroman richten soll, einen satirischen Handlungsstrang. Regelhaftigkeit ist, so karikiert Melo in krasser Zu-, nicht Überspitzung, der gerade Weg zur Massenverblödung. (6) Ihre Methode der Irritation und Durchkreuzung der stereotyp vorgeprägten Lesererwartungen besteht darin, die Motive ihrer Figuren offen zu halten. Ihre Figuren verhalten sich nicht wie erwartet, ihre Zielsetzungen sind unklar und widersprüchlich. Dadurch werden stereotype Leserreaktionen wie Identifikation oder Ablehnung unterlaufen. Der normative gesellschaftliche Diskurs über Gut und Böse, Gutmensch und Verbrecher wird in Frage gestellt. (7) Kurz, Patrícia Melo betreibt das Geschäft der „Destabilisierung und [...] Deregulierung moralischer Standards und ethischer Normen mit den Mitteln des Erzählens“, wie es Thomas Wörtche in seiner Laudatio im Oktober 2013 formuliert hat.

Irritierte Reaktionen
Wie irritierend Melos Destabilisierungstechnik funktioniert, zeigen exemplarisch zwei oberflächliche Rezensionen zu Leichendieb. Bereits die einfache Frage, warum und wieso es den namenlosen Callcenterboss von der Metropole São Paulo 1400 Kilometer weit nach Westen in die Sumpflandschaft des Pantanal in die Grenzstadt Corumbá verschlagen hat, beantworten sie unterschiedlich, falsch und harmonisierend. Weder ist der Ich-Erzähler ein „Aussteiger“ (8), noch „bricht er mit seinem bisherigen Großstadt-Yuppie-Leben“ (9), sondern er ist entlassen worden, weil er eine untergebene Angestellte geschlagen hat. Nach ihrem Selbstmord wurde er untragbar. Im Nachhinein kann er sich „selbst nicht verzeihen und noch viel weniger verstehen“, warum er die Angestellte geschlagen hat. Während er noch in der weltweit verbreiteten Barmtonlage erwischter Missetäter sein Schicksal bejammert, erhält er durch Zufall eine Einladung seines Cousins nach Corumbá. Das Exkulpationsmuster, das er auf den ersten Seiten des Romans einübt, ist das gleiche, das wir von Staatsverbrechern gewohnt sind. Sie haben unter Befehlsnotstand gehandelt, wussten selber nicht, wie ihnen geschah oder gehorchten schlicht der Not. Was ist daran schon verwerflich, einen Haufen Koks zu klauen und einen Leichnam sich selbst zu überlassen, wenn man kein Geld hat? Wer würde das in so einer Situation nicht tun, zumal alle Chancen bestehen, nicht erwischt zu werden?  Das ist das moralische Glatteis, auf das Patrícia Melo ihre LeserInnen führt.

Leichendiebe voll des Mitempfindens
Wer ein Callcenter leitet, sollte über Empathie verfügen. Das tut unser namenloser Ich-Erzähler. Irritierend unheimlich wirkt seine Fürsorge für seine indianischen Nachbarn, die die meisten Weißen nur verachten. Zu großer Form schwillt sein Mitempfinden mit der reichen Familie an, deren Sohn im Koks-Flieger abgestürzt und im Río Paraguay ertrunken ist. Schließlich weiß er aus eigener Erfahrung, wie es nervt, wenn die Mutter um ihren verschwundenen Mann trauert, weil sie ihn nicht beerdigen konnte. Und so kann man es geradezu als einen Akt des Mitleids ansehen, dass er und seine Nebengeliebte Sulamita die Idee entwickeln, der trauernden Mutter den Leichnam ihres Sohnes zu besorgen. Den Gipfel der moralischen Larmoyanz erreicht das traute Paar, als es seine Aktivitäten mit den Leichendieben vergleicht, die Robert Louis Stevenson in einer  Shortstory verewigt hat. Deren body snatching hatte ja noch ein „edles Motiv“ – die Unterstützung der medizinischen Wissenschaft, aber sie machen weiter. Schließlich träumen sie den Spießertraum vom kleinen Häuschen mit Kuh davor. Dafür muss man schon etwas tun.
Überhaupt Sulamita. Melo hat sie besonders bösartig gezeichnet. Die kleine Verwaltungsangestellte, deren Hoffnung auf eine Polizeikarriere mit einer Stelle als Leiterin des Leichenschauhauses endet, gleicht ihre schwindende sexuelle Attraktion durch die Rabiatheit aus, mit der sie den gemeinsamen Plan verfolgt. Nebenbei gelingt hier ein satirisch scharfer Blick auf die brasilianischen Polizeibehörden.
Nein, Leichendieb ist nicht erbaulich. Ich kann Ihnen nur eine tiefgründig komische Wanderung auf dem rasiermesserscharfen Grat versprechen, der zwischen Selbstbetrug und moralischer Verrottung liegt. Dass der Erzähler in der ersten Person Singular spricht, hat eine zunächst erleichternde Funktion. Er spricht ja nur von sich, und nicht von uns.

Hamburg, im Oktober 2013
Tobias Gohlis

Anmerkungen:

1   Melo, Ich töte, du stirbst, aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita; Stuttgart 2001; original 1994: Acqua Toffana

2    Melo, O Matador, aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita; Stuttgart 1997; original 1995: O Matador

3    Melo, Inferno, aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita; Stuttgart 2003; original 2000: Inferno

4    Melo, Schwarzer Walzer, aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita; München 2005; original 2003: Valsa Negra

5    Melo, Wer lügt gewinnt; aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita, Stuttgart 1999; original 1998: Elogio da Mentira

6    siehe hierzu Doris Wieser, Bücher sind wie Saftpressen, auf: culturmag.de
http://culturmag.de/rubriken/buecher/klassiker-check-ii-patricia-melo-wer-lugt-gewinnt/55856 (Stand: 18.8.2012)

7    siehe dazu Doris Wieser, Facettenreiche Gesellschaftsbilder, auf: culturmag.de
http://culturmag.de/crimemag/patrica-melo-im-portrait/874 (Stand: 31.5.2008)

8    Jan Schmelcher auf hr-online.de
http://www.hr-online.de/website/specials/buchmesse2013/index.jsp?rubrik=79545&key=standard_rezension_48460907
(Stand: 14.5.2013)

9    Katharina Granzin auf: taz.net http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2013%2F06%2F29%2Fa0031&cHash=829eb05ab23c87447456033cc061092b (Stand: 29.6.2013)