Tobias Gohlis interviewt Reinhold Messner

 


 

So oft überlebt

Tod und Überleben am Nanga Parbat

Held?

Kinder im Wettlauf um Liebe

Letzte Berge: Wüsten, Museen

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Reinhold Messner/Thomas Hüetlin:
Mein Leben am Limit — Autobiographie in Gesprächen, 2004

 

 

Überlebt. Reinhold Messner wird Sechzig.

Reinhold Messner im Gespräch mit Tobias Gohlis

Gut sieht er aus. Trotz der tiefen Kerben im Gesicht wirkt er von Grund auf heiter, ein Mann, der von sich sagt: „Ich habe mehr Glück gehabt als ein Mensch verdient.“ „Wie alt fühlen Sie sich?“ hat ihn Thomas Hüetlin in Leben am Limit, der gerade veröffentlichten — Autobiographie in Gesprächen gefragt. „Zeitlos.“ Doch Reinhold Messner wäre nicht Messner, wenn er nicht noch eins drauf setzen würde: „Mit sechzig ist das Umkommen in der selbstgewählten Gefahr ja nicht mehr so wahrscheinlich.“
Das Augenzwinkern, mit dem er so einen Satz ausspricht, ist ein neuer Zug. Eigentlich ist der Abenteurer ein Kontrollfreak. Er muss alles, was er tut, definieren und erklären. Wenn der berühmteste Bergsteiger der Welt am 17. September seinen sechzigsten Geburtstag feiert, hat er sechs Lebensphasen hinter sich. Das hat er berechnet.

So oft überlebt
„Sie waren einer der wagemutigsten Felskletterer im alpinen Stil, dann der beste Höhenbergsteiger der Welt. Sie haben die Antarktis, die Wüste Takla Makan und Grönland zu Fuß durchquert, waren EU-Parlamentarier, sind Burgbesitzer, Ökobauer und Vater von vier Kindern. Was war die größte Leistung des Leistungsmenschen Reinhold Messner?“
„Dass ich es überlebt habe. Ich habe eine Geburtstagseinladung verschickt, die ich Lhagyelo genannt habe, das ist tibetisch und heißt übersetzt: Die Götter waren gnädig. Dafür bin ich dankbar. Sich so oft exponieren und das so oft überleben, das ist auch eine Leistung.“
„Ihre Expeditionen begreifen Sie als Selbstzweck. Dienen die Bücher, die Sie darüber schreiben, auch der Rechtfertigung?“
„Ich verstehe mich als Barde: Ich gehe weg, ich komme wieder und erzähle darüber. Neuerdings hören mir sogar meine Kinder mit Interesse zu. Aber ich brauche für all das, was ich tue, keine Rechtfertigung. Bei der Frage nach dem Sinn relativiere ich sowieso. Ich sage: ich bin der Eroberer des Nutzlosen. Was ist denn heute schon nützlich?
„Philosophen wie Wilhelm Schmid erkennen in Ihnen den Lebenskünstler. Sehen Sie in ihrem Leben etwas Vorbildliches?“
„Buddha hat auf diese Frage geantwortet: Wer seinen Weg finden will, gehe und suche ihn. Ich sag das gleiche. Wenn einer meinem Vorbild folgen will, soll er. Aber er ist a priori schon auf dem falschen Weg, weil der Weg, den ich genommen habe, vielleicht für mich richtig war – vielleicht. Für einen andern ist er immer falsch.“

Tod und Überleben am Nanga Parbat
„Sie haben die Tragödie 1970 am Nanga Parbat, als ihr Bruder umkam und Sie beinahe auch, als Schlüsselerlebnis ihres Lebens bezeichnet. In den Debatten darüber wird kaum erwähnt, dass Sie sehr jung waren und keine Erfahrung mit diesen Höhen hatten.“
„Richtig. Wir waren Greenhorns, wir waren das erste Mal an einem Achttausender. Allerdings galt das damals für fast alle Bergsteiger, weil man in den sechziger, siebziger Jahren maximal ein- zweimal in seinem Leben zu einem so hohen Berg kam. Erst die Bergsteiger meiner Generation und der nachfolgenden haben öfter dorthin gekonnt.“
„Hat diese Tragödie Sie verwandelt? Vom Draufgänger zum Buddha-Fan?“
„Ich war nie mehr so gut wie an der Rupalwand (die 4500 Meter hohe Südwand des Nanga Parbat T.G.) Die Schwierigkeiten dieser fast senkrechten Gipfelwand haben mich am wenigsten geschreckt, weil ich wusste, das kann ich klettern. Schon 3 Jahre später würde ich mich wahrscheinlich nicht mehr getraut haben, so etwas Schwieriges solo ohne Seil zu machen. Ich war völlig naiv, was die Höhe anging, und ich fühlte mich auch wie Jung Siegfried: Bergsteigen ist zwar gefährlich, aber nicht bei mir. Aufgrund dieser Haltung gerieten wir dann in die dramatische Situation, die uns gezwungen hat, eine Rettungsaktion nach der anderen zu machen.
Dass das andere nicht begreifen können, kann ich nachvollziehen. Weil die nie in diese Lage gekommen wären. Die hätten auch nie den Mut zu dem gehabt, was wir in der Schlusswand gemacht haben: einfach loszugehen ohne Seil, kaum ausgerüstet, ohne voneinander zu wissen.
Vorsichtig waren wir auch vorher. Aber die Haltung den Bergen gegenüber war vorher eine andere als nachher. Aber auch bei meinem nächsten Achttausender sind Leute umgekommen. Das ist übrigens fast allen großen Bergsteigern so gegangen. Wenn Leute umgekommen sind, dann bei den ersten Achttausendern. Der erfolgreichste Höhenbergsteiger heute, der Slowene Tomaz Humar, hat bei seinen ersten Achttausenderexpeditionen jedes Mal seinen Partner verloren. Aber dafür kann er nicht geschimpft werden. Die waren einfach nicht so gut wie er. Und er hat diese wahnsinnig riskanten Sachen überlebt, weil er eben das bisschen Mehr an Erfahrung, Instinkt, Geschicklichkeit hatte als die anderen.“

Held?
„Helden sind die, die überlebt haben und dadurch mehr Kraft, Erfahrung, Weisheit gesammelt haben. Verstehen Sie sich als Held?“
„Nein, niemals. Seit ich tiefgründiger über das Bergsteigen nachdenke, habe ich es immer als einen Erfahrungsschub zur menschlichen Seite hin gesehen. Je größer der Berg ist, je größer die Gefahren sind, umso menschlicher macht mich der Berg. Ich werde zurückgeworfen auf meine Begrenzung. Im Grunde müsste man einen großen Berg darstellen als einen riesigen Keil von Angst, der in mich hineinfährt, wenn ich hinaufsteigen will.
Lange Zeit haben die Bergsteiger sich als Kämpfer gesehen, die beweisen, dass der Mensch übermenschlich ist. Ich sage, genau umgekehrt passiert es. Ich spüre meine Begrenzungen. Meine Haut ist keine Isolation, im Gegensatz zum Eisbären. Ich spüre, dass ich gar nicht geschickt bin.“
„Worin liegt der Reiz der Höhe?“
„Der liegt im Herunterkommen. Ich komme aus einer todesgefährlichen Situation zurück ins Leben. Dann erschient mir das Leben als das größte Gut, das es gibt. Das müssten wir auch hier am Tisch sitzend erkennen. Erst wenn ich das Leben fast verloren, fast verspielt habe, und es mir doch wieder zufließt, dann will ich dieses Leben wieder ganz intensiv packen, ausfüllen und wieder leben.“

Kinder im Wettlaufum Liebe
„Gibt es in ihrer Familiengeschichte einen Impuls, der Sie dazu bewegt hat, den größten Berg, die extremste Herausforderung zu suchen?“
„Nein, nicht direkt. Aber mein Bruder Hubert, der Arzt ist, hat eine Theorie. Wir waren neun Kinder im Wettlauf um die Liebe der Mutter. Die Mutter hatte immer das jüngste Kind bei sich gehabt, und das war ihr immer das wichtigste. So mussten sich die älteren draußen die Anerkennung suchen. Das da ein psychologischer Schlüssel wäre: ein größerer Hunger nach Zuneigung und Anerkennung, weil wir so viele waren und wir uns das erkämpfen mussten, das schließe ich nicht aus.“

Letzte Berge: Wüsten, Museen
„Was war Ihre letzte große Aktion?“
„Ich habe im Frühsommer die Wüste Gobi von Osten nach Westen bereist. 2000 Kilometer mit Kamelen, mit Pferden, mit Lastwagen, alleine.“
„Warum die Gobi?“
„Das war die erste Wüstengeschichte, die ich machen wollte, ein alter Plan. Und dann habe ich es gemacht, weil es möglich war. Ich habe eine Möglichkeit ausgeschöpft. Es war eine schöne Tour.“
„Und jetzt?“
„Feiere ich Geburtstag und baue weiter an meinem 15. Achttausender, dem Messner Mountain Museum in Südtirol.“


Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die Welt vom 17. September 2004