Tobias Gohlis über Mittelmeerkrimis



Ozean der Gefühle

Stürme über dem Mittelmeer

Ein launischer und verfressener Commissario

Wein, Weib und Gesang

Die mediterranen Helden: Modern und rückständig zugleich

 

 

Matrosen an Land

Betrachtungen über den Mittelmeerkrimi

Gibt es das – den Mittelmeer-Krimi? Reizvolle Frage. Und die Antworten: zahlreicher als die Gestalten des Mittelmeers. Was wäre denn ein Mittelmeerkrimi? Nimmt man den alten Mittelmeerraum des 15. und 16. Jahrhunderts, ein Amalgam aus Christentum und Islam, Expansion und Vergeistigung, zum Ausgangspunkt, dann gibt es den Mittelmeerkrimi nicht. Nordafrika, die Türkei und die Levante sind Nicht-EU. An den Nordküsten des Mittelmeers verschanzen sich die Reichen hinter den Barrikaden des Schengener Abkommens. Zwischen Bologna mit den postmodernen Trance-Romanen eines Carlo Lucarelli und dem dörflich-drastischen Vigàta Andrea Camilleris liegen Welten und Epochen, nicht zweitausend Kilometer.

Meine Idee vom Mittelmeerkrimi ist maritim und imprägniert vom Wasserkontakt. Da gehen Kommissare während der Siesta schwimmen wie Veit Heinichens Triestiner Kommissar Proteo Laurenti oder sie spazieren sinnierend die Hafenmole auf und ab wie Camilleris Comissario Montalbano. Oder sie träumen vom freien, uferlosen Meer, wie es ihnen der andalusische Dichter Rafael Alberti in seinen Gedichten aus dem "Matrosen an Land" vorgemacht hat, und „hissen Seufzer“ der Sehnsucht. Die Mittelmeerküste ist ein Spielplatz für kleine Jungen. Selten war Commissario Montalbano so wunschlos wie an dem Tag, als er (im „Dieb der süßen Dinge“) seine Geliebte Livia mit dem kleinen tunesischen Flüchtling François am Strand beim Bauen einer Sandburg fand. In Yasmina Khadras „Nacht über Algier“ ist das Mittelmeer ein Fluchtpunkt der Wehmut und Ort der Enttäuschung, das Leben des Kommissars Brahim Llob eine Hetzjagd. Nach Informationen, die ihm vorenthalten werden, nach Kontakten, die die herrschende Clique verbirgt, um sich zu schützen. Nach Zeugen, die verschwinden, schweigen oder ermordet werden. Das bronzefarbene, hoffnungsoffene Meer, auf dem Odysseus reisend zur Vernunft kam, hat sich in „Nacht über Algier“ in eine Kloake verwandelt: „Düster und unruhig, wie ein schlimmes Vorzeichen, erstreckt sich vor mir das Mittelmeer mit seinen fortgeschwemmten Träumen. Als wären sie Bahnhofsvorsteher, schwenken ein paar Ozeandampfer ihre Lampen, während ein Leuchtturm seinen bösen Blick in der Finsternis kreisen lässt, um irgendwohin seinen Bannstrahl zu werfen.“

Ozean der Gefühle?
In den zeitgenössischen Kriminalromanen, die am Mittelmeer spielen, hat sich das Meer vom Land zurückgezogen. Seine Kraft ist verbraucht, es schenkt weder Leben noch Träume. Das Meer ist wieder allein, wie vor Beginn der Geschichte. Fabio Montale, der empfindsame Held Jean-Claude Izzos, liebt es, in der Nacht mit seinen Fischerfreunden hinauszufahren. Wenn er dann im Licht der Morgenröte heim kommt, erblickt der Kommissar seine Heimatstadt Marseille in einem warmen Schimmer, so „wie Protis der Phokäer sie vor 2600 Jahren entdeckte.“ Und am Ende seines Kampfes, erschöpft von der Unmöglichkeit, der weltumspannenden Mafia etwas entgegen-zustellen, mit einer Kugel im Rücken, noch einen letzten Schluck des geliebten Lagavulin in der Kehle, treibt der Held aufs offene Meer: „Jetzt bin ich der Tod.“ Mit diesen Worten beschließt Jean-Claude Izzo seine Marseille-Trilogie. Aus der Traum von den einfachen Genüssen, die ihm die harte Wirklichkeit verwehrt: guter Wein, erfüllte Liebe, Klarheit, Gerechtigkeit. Projektionsfläche, Element seliger Verschmelzung von Mensch und Natur, Ozean der Gefühle, Medium der verlorenen Hoffnungen und erstickten Sehnsüchte, Antidot gegen Gift, Gewalt, Herzlosigkeit der Stadt – das ist das Mittelmeer in den Marseille-Romanen Izzos.

Stürme über dem Mittelmeer
Sonnengarantie und heiße Strände lassen nur zu leicht vergessen, dass an etlichen Küsten des Mittelmeers langlebige und üble Diktaturen die Lebensschicksale bestimmten – und oft zerstörten. Francos Herrschaft und das Regime der Obristen in Griechenland liegen bereits fast vergessene 40 Jahre zurück, noch frischer sind die Erinnerungen an Folter und Staatsterrorismus in der Türkei.

Kennzeichnend für alle mediterranen Krimiautoren ist daher zweierlei:

Neben der Abscheu vor den Verbrechen Francos, der griechischen Militärdiktatur oder der algerischen Revolutionsführer sind ihre Romane auch durchdrungen von Skepsis gegen die „alte Linke“, wie sie bei Petros Markaris bezeichnend heißt. Bei ihm sind altgediente KP-Funktionäre genauso korrupt, machtgeil und oft sehr viel verschlagener als die nationalistischen Reaktionäre.
Pepe Carvalhos Misstrauen gegen jede Art von Ideologie beruht auf soliden Erfahrungen als CIA-Agent sowie als kommunistischer Untergrundkämpfer. Ahmet Ümit (Istanbul) reflektiert in "Nacht und Nebel" persönliche Erfahrungen als antifaschistischer Untergrundkämpfer aus den achtziger Jahren in der gebrochenen Figur des Geheimagenten Sedat, der an seinen Methoden und Zielen irre wird. Auf der Suche nach seiner verlorenen Geliebten begreift er den destruktiven und antihumanen Charakter seiner staatstragenden Arbeit. Und Brahim Llob, der schriftstellernde Kommissar in Yasmina Khadras „Nacht über Algier“, verfügt zwar über jede Menge freches Auftreten und durchschaut die herrschenden Machtstrukturen. Trotzdem muss er sich am Ende eingestehen, dass er mit all seiner Rechtschaffenheit nicht mehr erreicht hat als unwillentlich einer Fraktion der Führungsclique die Oberhand über eine andere zu verschaffen. Wo das Recht nur noch Instrument politischer Ranküne und Manipulation ist, verliert der kleine Kommissar den moralischen Kompass. Enttäuschte Hoffnungen pflastern seinen Weg.

Ein launischer und verfressener Commissario
In dieser düsteren Umwelt nimmt sich die Lebensweise des Sizilianers Salvo Montalbano vergleichsweise sonnig aus. Die größten Verbrechen Italiens liegen lange zurück, Montalbanos Leben wird von Widrigkeiten bestimmt, die überschaubar sind: die Furcht vor der Ehe mit der gleichzeitig fort nach Ligurien und herbei nach Sizilien gewünschten Geliebten Livia, der Dauerkampf mit der Idiotie seiner Untergebenen und der Krieg gegen die bürokratischen Quälereien der Quästur in Montelusa. Camilleris Romane um den ebenso launischen wie verfressenen Commissario, der zudem ein gewiefter Schauspieler und Täuscher ist, sind Verwandte der „sizilianischen Charakterkomödie“, wie der Autor ironisch bemerkt.

Wein, Weib und Gesang
Montalbano ist übrigens keineswegs zufällig so verfressen. Seinen Nachnamen entwarf Camilleri als Hommage an den Kollegen aus Barcelona, mit dem er, so lange Vázquez Montalbán noch lebte (er verstarb 2003 im Alter von 64 Jahren) in liebevoll-ironischem Dauerclinch über die Ungenießbarkeit der katalanischen Küche lag. Überhaupt das Essen! Vázquez Montalbán platzte vor Stolz darauf, den internationalen Kriminalroman um die Kunst der Gastronomie bereichert zu haben. Bescheiden, wie es seine Art war, höhnt er über die Hamburger, denen Marlowe, und über die schlichte Hausmannskost, der Maigret ausgesetzt waren. „Nur zwei Amerikaner, Van Dine und Rex Stout, verstehen etwas vom Essen, und in der europäischen Literatur der jüngste leuchtende Stern, Andrea Camilleri, der exzellente sizilianische Menüs offeriert.“ Ihre Romane schwimmen geradezu in Pasta und Frutti di mare.

Vázquez Montalbán und Camilleri haben Essen und Kochkunst zu neuen Symbolen detektivischer Einsamkeit gemacht. Ihre Helden Pepe Carvalho und Salvo Montalbano zelebrieren ihre Unabhängigkeit in der Küche des Hausdieners Biscuter und in der Trattoria San Calogero. Das dumpfe Betäubungsmittel Whisky überlassen sie ihren amerikanischen Kollegen. Doch kann man, zumindest im Falle Carvalhos, den renitenten Narzissmus und die Lust auf kulinarische Genüsse auch als Glücks- und Überlebenstechniken verstehen, die im Schatten der Diktatur entstanden sind – nicht nur als Ausdruck einer bei uns im Norden innig bewunderten südlichen Lebenslust. Komische Züge gewinnt die mediterrane Gaumenlust in der Familie von Petros Markaris' Kommissar Kostas Charitos: Wenn ihm seine zur Xanthippe stilisierte Gattin sein Lieblingsgericht, gefüllte Tomaten, serviert, signalisiert das eine kurzfristige Waffenpause im ehelichen Stellungskrieg.

Plumpe Machos sind die Mittelmeer-Kommissare übrigens nicht. Beziehungsunfähig schon. Entweder sind sie aufbrausende Eigenbrötler wie Montalbano und Carvalho, mit eher flüchtigen sexuellen Kontakten zur ewigen Dauer-/Traum-Geliebten. Oder sie sind brave Ehemänner, muslimisch asketisch wie Brahim Llob oder ergeben leidend wie Kostas Charitos, der mal gnädig, mal grollend den allmächtigen Zeus markiert, immer die Faust auf der Haushaltskasse.

Die mediterranen Helden: Modern und rückständig zugleich
Gibt es einen gemeinsamen Nenner für diese mediterranen Helden, für den Algerier Brahim Llob, den Sizilianer Salvo Montalbano, den Katalanen Pepe Carvalho und den Athener Kostas Charitos? Sie sind moderne Detektive: Genießer, gute Schauspieler, einsam und gewitzt. In ihrem Beharren auf Eigenständigkeit und lokaler Gastronomie sind sie ein wenig rückständig. Schwer globalisierbar und ziemlich unfähig im Umgang mit Kommunikationstechnologie, Aktienderivaten und Fremdsprachen, aber auch in ihrer persönlichen Suche nach einer menschlichen Art von Gerechtigkeit wirken sie wie Personifizierungen eines vergangenen Europas. Träumer sind sie, Matrosen an Land.

Der Artikel erschien bei ARTE