Tobias Gohlis über über den Wahnsinn am Mt. Everest


Unschuldige Helden

Klettervirus und Selbstüberschätzung

Bergsteigerklatsch

Die vertikale Arena: Eigernordwand

 

 

 

 

 

Mountain Madness

Nach Krakauers Bestseller: Bücherwettlauf in eisige Höhen

Es war eine Katastrophe, wie sie zum Mount Everest gehört. Am 10. und 11. Mai 1996 starben fünf Menschen im Höhensturm bei dem Versuch, den höchsten Berg der Erde wieder zu verlassen. Einige von ihnen hatten Stunden zuvor triumphierend auf dem Gipfel gestanden. Nur in einem Aspekt unterschied sich ihr schreckliches Ende von dem der zehn anderen Bergsteiger, die im gleichen Jahr, und von dem der neun, die ein Jahr später am Berge der Berge umkamen: die Welt war dabei.
Während noch Rob Hall, einer der beiden Expeditionsleiter, für Retter unerreichbar in 8500 Metern Höhe sterbend ein letztes Mal mit seiner Frau in Neuseeland telefonierte, wurden bereits Fotos vom Gipfeltriumph und die ersten Katastrophen-Berichte im Internet publiziert. Der Journalist und Bergsteiger Jon Krakauer, selbst mit knapper Not dem tödlichen Unwetter entkommen, hat die Ereignisse in seiner ungemein spannenden und exzellent geschriebenen Reportage In eisige Höhen festgehalten. Das Buch wurde zum Weltbestseller.

Unschuldige Helden
Im Sog dieses Erfolgs wird jetzt auch von deutschen Verlagen ein Bergbuch ums andere produziert. Was bisher muffig nach Hüttenabenden und Bergkameradentreffen roch, duftet nach Bestseller. Jon Krakauers Markenzeichen ist Ehrlichkeit. "Bei 8848 Metern hoch oben in der Troposphäre gelangte so wenig Sauerstoff in mein Gehirn, daß meine geistigen Fähigkeiten sich auf die eines kleinen Kindes beschränkten. Unter den Umständen fühlte ich so gut wie gar nichts mehr, außer Kälte und Erschöpfung." Seit drei Tagen kletterte er bereits in der Todeszone über 8000 Meter, in der allein der Aufenthalt ein langsames Sterben ist. "Warum macht ein geistig normaler Mensch solche Sachen?" Eine Frage, die Krakauer mindestens noch ein Buch lang offen halten möchte. Weshalb er im Vorwort zu Auf den Gipfeln der Welt, einer soeben erschienenen Sammlung von Reportagen, erklärt: "Damit dies keine Mogelpackung wird, sollte ich gleich hier festellen, daß dieses Buch nirgendwo richtig Farbe bekennt und frontal diese Frage angeht." Könnte Krakauer erklären, was die Messners und Krakauers und Halls treibt, würde kein Mensch mehr Bergabenteuergeschichten lesen wollen. Ihr Reiz besteht in der Unauflösbarkeit des Rätsels selbst. Extrembergsteiger gehören zu den wenigen Helden, die ohne Gewissensbisse bewundert werden können. Ihr Heldentum ist unschuldig. Die Tugenden, die sie verkörpern, sind soldatisch und sportlich: Einsatz bis zum letzten (und darüber hinaus), Stählung des Willens, Konzentration von Psyche und Geist auf ein Ziel, optimale Körperbeherrschung. Als Helden sind sie einzigartig. Im Unterschied zum Soldaten töten sie nur sich selbst.
Sie gehen nicht nur an die Grenzen, die ihnen ihr Körper setzt. Sie sind die einzigen Hochleistungssportler, die sich bewußt und oft ohne Fluchtweg der überlegenen Gewalt der Natur aussetzen. Bergsteiger sind Heroen, die auf die ungelösten Probleme der Moderne mit einer persönlichen Entscheidung antworten. Reinhold Messners Karriere ist eine existienzielle Beweisführung gegen Technologiewahn und für eine Ästhetik der Selbstbeschränkung. In ihrer Konfrontation mit der Natur, in ihrem oft verzweifelten Kampf gegen Fels, Eis und Höhe befriedigen die Giganten der Berge für sich eine Sehnsucht nach Authentizität, an der die meisten Menschen nur durch Medienkonsum teilhaben können.

Klettervirus und Selbstüberschätzung
Krakauer liegt daran, den "mystischen Wildwuchs zu stutzen", der die Bergsteiger umrankt. Trotzdem sieht er sie in der Rolle von exemplarischen Menschen: "Die meisten Kletterer sind nicht wirklich gestört, sondern lediglich infiziert von einem besonders virulenten Zug menschlicher Veranlagung." Nach Bruce Chatwins Nomaden-Gen bereichert nun Krakauers Kletter-Virus die imaginäre Anthropologie.
Auf den Gipfeln der Welt gibt's koa Ruh und koa Sünd, nur die Strafe, die auf die Hybris folgt. Dreizehn Menschen starben im Sommer 1986 am K2, dem zweithöchsten und vermutlich schwierigsten Berg der Erde. Sie seien an Selbstüberschätzung gestorben, urteilt Krakauer in einem Aufsatz über das "Blutbad", weil ihnen "das phänomenale bergsteigerische Gespür" Messners fehlte. Sie wollten Messner und Habeler folgen, die 1975 erstmals ohne Fixseile, Flaschensauerstoff und Trägerunterstützung, kurz: ohne die bis dahin üblichen Belagerungstechniken für Achttausender, den Hidden Peak erstiegen hatten.

Bergsteigerklatsch
"Sollte eine zivilisierte Gesellschaft weiterhin eine Tätigkeit billigen oder gar feiern, bei der offenbar eine zunehmende Akzeptanz des Todes das wahrscheinliche Ergebnis ist?" Die Antwort gibt Krakauer mit dem Bericht seiner Besteigung des "Devils Thumb", eines wüsten Fels- und Eisklotzes in Alaska. Es war die pure Selbstüberschätzung, die seinerzeit den 23jährigen auf den Berg trieb. Doch bei aller ironisch-liebenswürdigen Distanz, die Krakauer zu seinem Thema pflegt, ist Auf den Gipfeln der Welt kein großer Wurf. Als Reportagensammlung fehlt ihr die Wucht der Everest-Kulisse, vor der Krakauer die 65.000-Dollar-Kletterer wie Figuren aus dem Mythos darstellen konnte. Von der tödlichen Blindheit der Eifersucht und der Finsternis der Todeszone kann man nur einmal Gewaltiges berichten. Mit den geifernden Hexen und tragisch sich opfernden Argonautenführern des Everest haben John Gill, der Vater aller Freeclimber, oder die Slapstickfiguren der Burgess-Boys (Spezialgebiete: Saufen und illegale Achttausender in Tibet) wenig gemeinsam. Als Insider karikierkiert Krakauer Kletter-Snobiety von Chamonix - das ist alles amüsant und mit leichter Hand geschrieben, Bergsteigerklatsch auf alpinem Niveau.

Die vertikale Arena: Eigernordwand
Es ist überhaupt kein Zufall, daß Krakauers Auf den Gipfeln der Welt mit der Schilderung einer gescheiterten Eiger-Nordwand-Besteigung anhebt. Nach dem Everest bietet der Eiger die dramatischste Kulisse. Von sicherer Warte aus schaudernd Einblick in den Wahnsinn gewinnen - das ist der Nervenkitzel, der die Eiger-Nordwand groß gemacht hat. Vorm Hotel Kleine Scheidegg stehen seit den ersten Versuchen in den dreißiger Jahren, die 1800 Meter hohe, beinahe ununterbrochen von Stein- und Eisschlag durchrauschte Wand zu erklettern, die Zuschauer Schlange. Kein Berg war bis in die 60er Jahre hinein skandalträchtiger, nirgendwo tobte der Kampf um Ideologien, seien es Nationalismus oder die Reinheit des alpinen Kletterstils, heftiger. Wie diese natürliche Schreckensbühne belagert und erobert wurde, bis sie zum Filmset des Alpinismus geworden war, hat Daniel Anker in seinem Bergporträt Eiger - die vertikale Arena bravourös dokumentiert. Nüchterner als in diesem exzellenten Bild-Text-Band kann das Phänomen der Extremkletterei kaum dargestellt werden. Von den Qualen der ersten Begehungsversuche und den spektakulären Katastrophen über das Elend der Bauarbeiter, die die Berge mit Löchern für die Bühnentechnik durchbohrten, bis zu Clint Eastwoods Stunts und modernsten Rettungstechniken per Hubschrauber - dies ist ein Buch, das sich der Komplexität zeitgenössischer Bergsteigerei intellektuell und visuell gewachsen zeigt.

Nicht nur am Berg ist es ein deprimierendes Gesetz, daß die Neulinge immer von unten anfangen müssen, um Erfahrungen zu machen. Ganz von unten her, aus den Unlotbarkeiten einer radikalfeministisch aufgeladenen Mythologie unternimmt Luisa Francia ihren Aufstieg. Frauen in eisigen Höhen - seit die pilgernde Nonne Ätheria 385 den Sinai erklomm, zieht sich ein Strom bergsteigender Frauen durch die Geschichte. Verkannt, vergessen, nur noch als Dämoninnen und Göttinnen im Innern der Berge präsent. Gegen die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Frauenverachtung der Alpinisten rennt Francia an, als gelte sie unverändert. Ihre Begeisterung für den Unteren Himmel der bergsteigenden Frauen ist getrübt durch Männerphobie: "Wenn ich nachts irgendwo auf einem Berg liege, gibt es nichts, was Angst machen könnte. Ich bin noch nie einem Mann bei meinen Nächten auf irgendwelchen Bergen begegnet." Ihre "längst fällige Ergänzung zu den Abenteuerberichten über männliche Helden" (Klappentext) ist tatsächlich nur das: keine Erzählung von den beeindruckenden Leistungen der Bergsteigerinnen, sondern ein endloses Gejammer über Kränkungen durch männlichen Chauvinismus, eine Ergänzung eben.

Alle nach Krakauer geschriebenen Himalaya-Bücher beziehen Stellung zur Everest-Katastrophe 1996, auch Francia. In einer Chronik weiblicher Bergleistungen kolportiert sie: "1996 überlebten drei Frauen eine Nacht bei vierzig Grad minus (..), nachdem ihre Expeditionsführer vorher auf und an dem Gipfel gestorben waren." Dies ist zweifellos die bizarrste Perspektive: menschenverachtender feministischer Höhenkoller.

Einen weitaus erhellenderen, und in vielem auch Krakauers Version überlegenen Blick in die Hintergründe der Katastrophe offenbart der Bericht eines teilnehmenden Außenseiters. Der russische Höhenspezialist Anatoli Bukreev, ohne desssen außergewöhnlichen Einsatz übrigens die drei Bergsteigerinnen nicht überlebt hätten, war als Bergführer für die kommerzielle Expedition des Unternehemens Mountain Madness angeheuert. Da er weder genügend Englisch sprach noch mit dem westlichen Lebensstil der anderen Teilnehmer klarkam, als erfahrenster Höhenbergsteiger aber eigensinnig war, blieb er sozialer Außenseiter. Behandelt fühlte er sich wie die Sherpas, deren Wohlbefinden auch nur zum Thema wurde, wenn ihre Dienstleistugen auszufallen drohten. Sein Buch zeigt, wie unter schlechten Wetterbedingungen in der extremen Höhe jeder winzige Fehler tödliche Folgen hat. Es ist eben mountain madness, über 8000 Metern, wo jeder mit sich selbst kaum klarkommt, Menschen verantwortlich führen zu wollen. Über weite Strecken hatte Bukreev keine Anweisungen und konnte mit niemandem Verantwortlichen Kontakt aufnehmen. Erschütternd liest man, wie der Russe verzweifelt und erschöpft nach einer heroischen Rettungsaktion am Tag nach der Katastrophe den Leichnam seines Freundes und Bosses Scott Fisher findet, dem er nicht mehr helfen kann.

Dieses unspektakuläre Buch unterstreicht, was auf einer anschließenden Beratung der beteiligten Bergsteiger festgehalten wurde: Ohne eine absolut verbindliche Umkehrzeit (die im Mai 1996 um Stunden überschritten wurde), ausreichende Kommunikation und Sauerstoff-Reserven ist kommerzielles Gruppenbergsteigen am Everest unverantwortlich. Ebenso deutlich ist aber auch, daß niemand oberhalb von 8000 Metern klettern sollte, der nicht alle Voraussetzungen mitbringt, allein auf sich gestellt aus der Todeszone zu kommen. Und das tun nur wenige. Und kaum jemand kann mit soviel Glück rechnen wie der Arzt Beck Weathers, der in jenem Mai 1996 am Südsattel des Everest zweimal für tot gehalten und liegen gelassen wurde, und doch noch mit schwersten Erfrierungen gerettet werden konnte. Nachzuvollziehen ist dies in dem ausgezeichneten Text-Bild-Band der National Geographic Society Everest - Gipfel ohne Gnade.

Triumph und Katastrophe liegen am Everest so dicht beisammen wie die erforenen Leichen seiner Opfer. Zwölf Tage später, am 24. Mai 1996, erstürmte der Tiroler Hans Kammerlander in einem 16-stündigen Parforcemarsch von der tibetischen Nordseite her ohne Biwak, Sauerstoff und Eispickel den dritten Pol der Erde. Kammerlander stellte nicht nur den Temporekord für diese Route auf, er war auch der erste, der den Gipfel auf Skiern verließ. Eine Grenzleitung eigener Art: an den Steilhängen der Achhtausender ist die Abfahrt per Ski weitaus kräftezehrender als der Aufstieg zu Fuß. Schnelligkeit ist für Kammerlander der Schlüssel zu Sicherheit. "Die Taktik des wirklich extremen Bergsteigens reduziert sich immer mehr auf die beiden wesentlichen Faktoren klein und schnell. Mit einem Minimum an notwendiger Ausrüstung blitzschnell aufsteigen und genauso rasch wieder hinunter - dies ist die beste Chance zu überleben. Je kürzer man am Berg ist, desto weniger ist man Lawinen, Steinschlag, Wetterstürzen und den Gefahren der Höhenkrankheit ausgesetzt." Als Bergsüchtig versteht sich Kammerlander - eine Erklärung für die Motive des Artisten, die genauso treffend ist wie Krakauers "Besessenheit". Kammerlander probierte neue Kombinationen an der Grenze seines Leistungsvermögens. Alle vier Grate des Matterhorns erstieg er, umschwirrt und gefährdet von den Helikoptern der Filmteams, in 24 Stunden. Nachdem zwei Freunde bei einer von ihm geleiteten Expedition an einem Achttausender umgekommen waren, löste er das daraus entstandene psychische Trauma, in dem er ebenfalls in 24 Stunden die 1400 Meter hohe Nordwand des Ortler, die anspruchsvollste Eiswand der Alpen, und die 550 Meter der Großen Zinne, eine der steilsten Felsklettereien der Dolomiten durchstieg. Die 250 Kilometer zwischen den beiden Wänden fuhr er mit dem Rad. Sein größtes Problem dabei: der Straßenverkehr. Kammerlander ist ein sensibler Eisen-Mann. Noch mehr als seine Leistungen beeindrucken den Leser seines unaufgeregten Buches sein Umgang mit der Angst, seine Überwindung der Schrecken des Eises und der Finsternis. Kammerlander hat gefunden, daß sie in ihm selbst liegen.

Kammerlander ist auch der einzige, der kaum berührt ist vom Sensationellen der Everestkatastrophe. Für die Expeditionsleiter Rob Hall und Scott Fisher vermag er weniger Mitleid zu empfinden als für die "Sherpas, die überforderten Klienten und die Familien derer, die am Everest blieben." Fisher und Hall opferten sich für ihre Kunden. Ihre Unternehmen Adventure Consultants und Mountain Madness bieten im Mai 2000 wieder geführte Expeditionen auf den Everest an, auf der Südroute, wie 1996.