Tobias Gohlis über Carl Nixon: Rocking Horse Road




Der Fall nimmt religiöse Dimensionen an

Lucy lässt sie nicht los

Zum Detektivischen

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Carl Nixon:
Rocking Horse Road

Aus dem Englischen von Stefan Weidle

 

 

Trauer um Lucy

Sex und Gewalt brechen über neuseeländische Kleinstadtjungs herein – ein grandioser Roman von Carl Nixon

Nur der Nebel, der sich manchmal am Ende der schmalen Landzunge The Spit bildet, wo zwei Flüsse vor Christchurch auf den pazifischen Ozean treffen, ist noch dichter als der Dunst in den Köpfen jener 15-jährigen Jungen, die Carl Nixon zu den Erzählern seines Romans The Rocking Horse Road  gemacht hat. Pete ist einer von ihnen. Obwohl er nicht zu den Verdächtigen gehört, dauert es lange und viele Lügen und Ausflüchte, bis er eingesteht, was er am Morgen des 21. Dezember 1980 am Strand vorhatte, als er die nackte Leiche von Lucy Asher fand. Er wollte sich ungestört ein Pornoheft anschauen, das er seinem älteren Bruder geklaut hatte, und sah nun zum ersten Mal in seinem Leben eine nackte Frau.
Carl Nixon ist 1967 in Christchurch geboren und am Schauplatz, der schmalen Landzunge mit der Rocking Horse Road als Rückgrat, aufgewachsen. Er hat Short Stories und Theaterstücke geschrieben, bevor er diesen ersten Roman verfasste, ein stärkeres Stück Literatur als alles, was unter dem Etikett „Krimi“ in diesem Neuseeland-Herbst der Buchmesse an Land gekommen ist.

Der Fall nimmt religiöse Dimensionen an
Zweifellos ist die 17-jährige Lucy ermordet worden. Doch für die Jungen, die das Rätsel ihres Todes aufspüren wollen, nimmt der Fall religiöse Dimensionen an. Mehr als 25 Jahre lang verehren sie die ältere Mitschülerin, mit der sie im Leben kaum persönlichen Kontakt hatten, als ihre Heilige, und ebenso lange sammeln und horten sie alle "Beweise", die einen Bezug zu ihrem Leben haben, zu ihren Liebschaften und überhaupt zu allem, das von Bedeutung sein könnte. Nixon lässt sie alle zu Wort kommen, als kollektives Wir, das nach einem Vierteljahrhundert zurückblickt, ein Trick, der nicht nur das Hitzig-Dunstige dieser Bubensekte transportiert, sondern auch verschleiert, ob nicht doch einer von ihnen etwas mit Lucys Tod zu tun hatte.

Lucy lässt sie nicht los
Frappierender als diese unterschwellig treibende Whodunnit-Ebene sind die Erfahrungen von Gewalt und Sexualität, die die neuseeländischen Parzivals einsammeln und ihrem Beweismittel-Herbarium hinzufügen müssen. Carolyn, Lucys jüngere Schwester, setzt bei ihrer eigenen persönlichen Suche nach dem Täter – shocking für die biedere Vorstadtgesellschaft – Sex und Drogen ein. Die Jungs erforschen jede Art normabweichenden Verhaltens und stoßen auf die Prostituierte des Kaffs – und auf einen ihrer Väter, der sie aufsucht. Als sie Lucys Tagebuch und dadurch ihren Liebhaber entdecken, entlädt sich der blinde Triebstau. Zur gleichen Zeit, als die Tour der südafrikanischen Rugby-Nationalmannschaft die heile Welt des neuseeländischen Nationalsports in Frage stellt. Betrunkener Mob fällt über antirassistische Protestierer her. Unmerklich, fast so, wie das Gesicht des Strandes, an dem sie leben, durch Ebbe und Flut verändert wird und doch gleich bleibt, werden Tug, Pete, Mark, Jase und die anderen älter und erwachsen. Und doch lässt sie, lassen sie Lucy nie los. Und die Leser auch nicht.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 40 vom 22.9.12

 

Zum Detektivischen
"Rocking Horse Road" ist in jeder Hinsicht meisterlich: in der scheinbaren Schlichtheit des Tons, der perfekt jenes Schwanken zwischen Erkenntnis, Lust, Zurückschrecken und Abhärtung des Heranwachsens in allen Nuancen einfängt; in der Darstellung und Erinnerung an die weggeschwemmten und vom Erdbeben 2010 zerstörten Lebensverhältnisse; in der Balance, die der Text zwischen eindringlichen Naturschilderungen und nervenfetzender Darstellung sozialer Gewaltverhältnisse hält; in der Zartheit, mit der die Liebe der Jungen zu der verehrten Ermordeten sich zur Obsession steigert.
Doch von subtiler Meisterlichkeit ist "Rocking Horse Road" als Kriminalroman. In dem Wir des kollektiven Erzählers sind düstere Facetten verborgen, die man allzu leicht überliest. Denn die Jungen machen nicht nur individuelle Entwicklungen durch, entscheidender ist die Entwicklung der Gruppe, der kleinen Masse, die jederzeit bereit ist, den Verdacht auf ein neues Objekt ihres Irrens und Verfolgens zu lenken, bis sich die angestaute Aggression in einem Gewaltakt entlädt. Und dieser Gewaltausbruch, den niemand verursacht haben will, an dem aber alle beteiligt waren, weckt einen unheimlichen Verdacht. Kann es sein, dass sich in dem Gemeinschafts-Wir der Täter verbirgt? Und dann beginnt man mit der Suche: Welcher Junge könnte der Erzähler dieser Szene sein? Wer wird nicht erwähnt? Und tut, was man diesem Roman wünscht. Man liest ihn wieder neu – als Detektiv.

Auszug aus den Literaturnachrichten Nr. 114 (Herbst 2012)

Hier nachzuhören ein Gespräch auf SWR 2 zwischen Katharina Borchardt und Tobias Gohlis über Rocking Horse Road

Sie können den Beitrag auch auf der Internetseite des SWR 2 hören.