Tobias Gohlis über Ingrid Noll: Selige Witwen

 


Ein Volk von Mörderinnen

Achenputtel

Ersatzmütterliche Gewaltlust

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Ingrid Noll: Selige Witwen

Doris Gercke: Die schöne Mörderin

 

 

Mit spitzen Fingern

Als Maja noch keine Diebin und Mörderin war, sondern in der Pubertät, wurde sie gehänselt. Obwohl sie eigentlich nicht wie eine aussah, bekam sie den Spitznamen "Elefantin". Eine wohlmeinende Lehrerin versuchte sie zu trösten: "Eine starke Frau ist etwas Erstrebenswertes!" Womit sie nicht meinte, Männer strebten nach starken Frauen, sondern: Die kleine Maja sollte stark werden. So grammatikalisch unbeholfen bekam der deutsche Kriminalroman das merkwürdige Lernziel verpasst, er solle der weiblichen Emanzipation als Rollenspielfutter dienen.

Ein Volk von Mörderinnen
Das war 1993. Inzwischen sind Jahre ins Land, respektive die Toskana gegangen. Nachdem sich Maja und ihre Jugendfreundin Cora (in Ingrid Nolls Die Häupter unserer Lieben) diverser lästiger Ehemänner und anderer Familienangehöriger entledigt haben, können sie auf der selbstbewirkten Basis ihrer Erbschaft fröhlich spotten. ",Wie würdet du reagieren, wenn man die Deutschen als Volk von Mördern bezeichnete?' will Maja von der Busenfreundin wissen. ,Das wäre wohl die letzte Unverschämtheit', ereiferte sich Cora. ,Politisch unkorrekt, rassistisch und vor allem frauenfeindlich. Mörder und Mörderinnen müsste es heißen.'"

Die beiden haben sich in der Nähe von Florenz niedergelassen. Mit Majas Söhnchen Béla und Haushälterin Emilia bilden sie eine in Malerei, Kochkunst und Kindererziehung dilettierende Wohngemeinschaft. Wer glauben möchte, derartige Wahlverwandtschaften gleichgesinnter Mörderinnen seien Inseln sozialer Harmonie, sollte Ingrid Nolls jüngste Fortsetzung Selige Witwen lesen.

Von dem idealen Zustand, reich und ohne familiäre oder soziale Verpflichtung zu leben, den seinerzeit Patricia Highsmith' talentierter Mr. Ripley mit ein, zwei Morden pro Saison problemlos aufrechterhalten konnte, sind die beiden deutschlandflüchtigen Damen weit entfernt. Denn Cora hat Geld und das Sagen, Maja nichts. An die Stelle der alten sind neue Abhängigkeiten getreten, und Maja beklagt sich über die strukturelle Gewalt darin: "Offensichtlich war ich dämliches Aschenputtel dafür prädestiniert, Frauen wie Kathrin und Cora aus der Patsche zu helfen."

Aschenputtel
Kathrin ist eine neue Bekannte und noch weit vom ersterbenswerten Sozialstatus der Seligen Witwe entfernt. Sie ist auf der Flucht vor einem Verbrecher, der auch Rechtsanwalt und ihr Ehemann ist. Maja, der Overprotection ihrer toskanischen Gönnerin Cora vorübergehend nach Frankfurt entkommen, muss nun, statt die neue Unabhängigkeit zu genießen, Kathrin aus den Fängen ihres Gatten befreien. Während die geschändete Ehefrau in Innsbruck versucht, geklaute Gemälde zu versilbern, verbrennt der erboste Anwalt Maja die Fußsohlen. Eine Freveltat, die nicht ungesühnt bleiben wird.

Doch erstaunlich: die erprobten Mörderinnen zaudern und zagen. Zwar tüfteln sie - Cora hat sich der Frankfurter Frauenfront zugesellt - mit Leidenschaft an Mordkomplotten. Doch statt entschlossen zur Tat zu schreiten, suchen sie nach Dummen, die sie an die Front schicken können. Ein paar nette Jungs werden als Aushilfen angeheuert, doch letztlich bleiben die dreckigen Jobs an Biene Maja kleben. Cora delegiert mit spitzem Finger, Maja kann nicht nein sagen, alles wie geklagt.

Ersatzmütterliche Gewaltlust
Diese ersatzmütterliche Lust zur Gewalt bei gleichzeitiger Scheu, sie selber auszuüben, ist bei einer anderen Autorin bis in die Erzählstruktur vorgedrungen. In Doris Gerckes jüngstem Roman Die schöne Mörderin erzählt Bella Block, erstmals aus der Ich-Perspektive, die Geschichte einer jungen Findelfrau aus Odessa. Tolgonai hat eine Zeit bei Bella in Blankenese gelebt, doch nun macht sie sich trampend frei. Auf ihrer - wie immer mit Gerckescher Sozialkritik gewürzter - Deutschlandtour kommt sie einer Biker-Truppe unter die Räder. Wie stellvertretend für die (auktorial zuschauende) Bella, die früher durchaus imstande war, eigenhändig Rache an besonders üblen Exemplaren Mann üben, erledigt Tolgonai den Biker-Boss und andere Bösewichter, bevor sie selbst ein schröcklich Ende findet. Bella hingegen - ist das schon das Alter? - räsoniert über die ideale Tochter als gerechter und rächender Unschuld: "Denn bei all dem, was sie getan hatte, war Tolgonai eine sanfte, schöne, strahlende Frau geblieben, nur eben eine Frau, die die Verhältnisse erkannt und sich entschlossen auf die Seite der Frauen gestellt hatte." Und von dort kriegt auch sie diese spitzen Finger in den Rücken.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 33/ 2001