Ian Rankin: Im Namen der Toten
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller
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Tobias Gohlis im Interview mit Ian Rankin
Ian Rankin: „Ich bleibe Außenseiter“
Noch können es Ian
Rankins englische Leser kaum fassen: Seit August ist DI John Rebus
in Rente. Tobias Gohlis und Martin Schöne besuchten Großbritanniens
erfolgreichsten Krimi-Autor in Edinburgh auf dem Höhepunkt der Abschiedsfeierlichkeiten.
Während „Rebus’s Favorite“, Rebus’ und Rankins Lieblingsbier, in Strömen
floss, sprachen sie mit ihm über sein Leben mit Rebus, über das neue
Buch Im
Namen der Toten und seine Rolle als Autor in Schottland. Das
Interview wurde während der Dreharbeiten an dem Filmporträt „Ian Rankin:
Edinburghs Unterwelten“ im Oktober 2007 geführt.
Tobias Gohlis: Der Roman, der soeben in
Deutschland erschienen ist, heißt Im Namen der Toten,
auf Englisch The Naming of The Dead. Wie ist es zu diesem
Titel gekommen?
Ian Rankin: Das war eine Protestaktion gegen den Irakkrieg
während des
G8-Gipfels 2005 hier in Edinburgh. Eine Menge Leute marschierte über
Princess-Street hoch zum Calton Hill, einem erloschenen Vulkan. Oben
verlasen sie eine Liste mit den Namen von über eintausend Menschen, die
im Irakkrieg umgekommen waren. Als ich den Begriff “The
Naming-of-the Dead-Ceremony” in der Zeitung las, dachte ich: Das
ist der perfekte Titel für mein Buch.
Auf ihre Weise taten die Demonstranten dasselbe, was Polizisten tun:
Sie gaben den Toten Identität.
TG: Wie haben Sie den G8-Gipfel erlebt?
IR: In dieser Woche im Juli 2005, in der auch mein Buch
spielt, war Edinburgh eine Stadt im Belagerungszustand. Kein Mensch konnte
einen Brief wegschicken. Man hatte die Briefkästen verschlossen, weil
man befürchtete,
es würden Briefbomben hineingeworfen. Viele Geschäfte hatten ihre Fenster
aus Angst vor Steineschmeißern verrammelt. Man konnte kaum Benzin kaufen,
weil die Demonstranten sich in den Tankstellen an die Pumpen gekettet
hatten … Auf der anderen Seite Massen von Polizei, drei-, viermal so
viel wie Demonstranten, viele von außerhalb, die jede Bewegung in der
Stadt kontrollieren wollten. Rebus, mein Detektiv, hatte sehr gemischte
Gefühle.
Er konnte es gar nicht leiden, dass andere Leute sein Territorium besetzten.
Das gab mir Gelegenheit, einen neuen Aspekt von Rebus zu zeigen.
TG: Er kämpft u.a. gegen Steelforth, einen Geheimdienstmann
aus London.
IR: Ja, Rebus ist ein Anarchist, eine völlig antiautoritäre Persönlichkeit.
Auch als Cop fällt er aus der Rolle, statt als Teil des Establishments
alles unter Kontrolle zu bringen, agiert er wie ein amerikanischer Privatdetektiv,
für sich allein, selbst bei großen Polizeioperationen geht er seine eigenen
Wege. Immer in Konflikt mit der Autorität. Ein typischer schottischer
Mann aus der Arbeiterklasse, trinkt, raucht, kein Gefühl für Sterblichkeit,
sieht alles Schwarz und weiß, aber ein sehr guter Bulle.
TG: Ist das richtig, dass Sie sich in den letzten Rebus-Romanen immer
mehr politischen Themen zugewendet haben?
IR: Ja, die Frage „Wer War’s?“ ist
für mich nicht mehr so interessant. Was mich interessiert, sind die großen
Verbrechen, die so groß sind, dass man sie nicht mehr erkennen kann.
Terrorismus zum Beispiel: Wie die Angst vor dem Terrorismus hilft, die
Gesellschaft unter Kontrolle zu halten, sehr nützlich für Politiker.
Kein Mensch braucht das. Erst hatten wir die Sowjetunion und fürchteten,
sie würden uns mit Atombomben überfallen. Als die Mauer fiel, sah alles
für fünf Minuten OK aus. Plötzlich sind andere Kriege da, die Klimaerwärmung,
der Terrorismus … Alle diese Ängste halten uns still auf unseren
Sitzen.
TG: Und die Kriminalliteratur?
IR: Es fast wie ein Zwang: Menschen müssen verunsichert
werden. Der Thriller und der Kriminalroman sind gute Wege, um das zu
erforschen. Bedrohungen waren immer schon Themen der Literatur. Kriminalliteratur
kann das ebenso gut, was andere Literatur kann … In den letzten Rebusromanen
sage ich: Es ist nicht die Unterwelt der Gangster, vor der wir uns fürchten
müssen,
es ist die Oberwelt. Das sind unsere Führer, ihre Beziehungen zum Bigbusiness,
zu den Multinationalen Konzernen …
TG: Sie haben früher das schlechte
Ansehen kritisiert, das die Kriminalliteratur hat. Hat sich in den zwanzig
Jahren Ihres Schreibens etwas verändert?
IR: Die Lage entwickelt sich. Man kann heute in der
High School literarischen Essays über Crime Fiction schreiben, z.B. über meine Bücher, auch in
der Universität wird Kriminalliteratur unterrichtet und Literaturwissenschaftler
schreiben Bücher darüber. Aber wir haben im Vereinigten Königreich immer
noch die Trennung zwischen „Literature“ und „Crime Fiction“, in den Buchhandlungen
etwa. Das einzige, was Krimiautoren tun können, ist immer bessere Bücher
zu schreiben über ernste Gegenwartsstoffe und große Themen. Neue Autoren
kommen mit neuen Ideen und Schreibweisen. Dann wird Kriminalliteratur
vielleicht ernst genommen als Literatur über unsere Gesellschaft und
wird auch seriöse Literaturpreise wie den Man Booker Prize bekommen.
TG: Was ist ihr Konzept von Kriminalliteratur?
IR: Was ich von Anfang an wollte, war über das Edinburgh von heute zu
schreiben, darüber, was es mit der kleinen, komplexen Stadt wirklich
auf sich hat. Ich wollte hinter die Burgmauern und die Dudelsackmusik
gehen, hinter Golf und all das andere, das Besucher für „Schottland“ halten.
Und über ein wirkliches Land reden, mit seinen alltäglichen Problemen
und sozialen Spannungen. Und ein Cop, ein Bulle, ist ein gutes Mittel
dazu. Ein Detektiv hat Zugang zu jeder Schicht der Gesellschaft.
TG: Anfangs waren ihre Bücher sehr schottisch, Variationen
auf Jekyll und Hyde …
IR: Mit Black and Blue (deutsch: Das
Souvenir des Mörders)
hat sich das geändert.
Ich begann, Realität und Fiktion zu mischen. Zuvor hatte Rebus auf einem
erfundenen Polizeirevier gearbeitet, hatte eine fiktive Adresse trank
und in erfundenen Bars. Ich brannte das fiktive Revier ab und versetzte
ihn auf ein reales, ich gab ihm eine wirkliche Adresse: Ardenstreet 17,
zweiter Stock. Nun trank Rebus sein Bier in einer echten Bar, der Oxford
Bar. Plötzlich war der Unterschied zwischen realer und fiktiver Welt
verwischt. Wenn die Leute durch Edinburgh gehen, denken sie, sie gingen
durch die Straßen von Rebus.
TG: Sie haben jetzt, das noch nicht übersetzte Exit
Music eingeschlossen,
achtzehn Bücher über Rebus geschrieben und zwanzig Jahre mit ihm gelebt.
Wie trennt man sich von einer Figur?
IR: Ich war 24, als Rebus in meinem
Kopf auftauchte, als eine schon fast vollständig entwickelte Figur. Damals
lebte ich in der Ardenstreet mit zwei anderen Studenten und schreib an
meiner Doktorarbeit über Muriel Spark. Rebus war sehr nützlich, er war
mein Psychoanalytiker und Punchingball. Ich konnte ihn schlagen und prügeln,
wenn in meinem Leben etwas schief ging. Es war richtig therapeutisch, über
ihn zu schreiben. Ich weiß nicht, wie es ohne ihn gehen wird. 2007 geht
er in den Ruhestand, er ist sechzig und im Pensionsalter. Ob ich ohne
ihn weiterleben kann, weiß ich nicht. Er kann ohne mich weiterleben:
Er existiert in den Büchern und wartet auf neue Leser, er ist im Fernsehen
und auf Hörbüchern. Aber ich weiß nicht, ob ich ohne ihn existieren kann.
Das ist die Herausforderung.
TG: Sie kommen aus Cardenden, einer kleinen
Bergarbeiterstadt in Fife. Wie hat Sie das geprägt?
IR: Ich erzählte niemandem davon, als ich anfing, Gedichte und Songtexte
zu schreiben. Ich war ein Teenager, und abends hing ich mit anderen toughen
Teenagern in den Straßen herum. Aber ich fühlte mich überhaupt nicht
dazugehörig. Ich war wie ein Chamäleon, ich sah aus wie alle anderen,
aber ich fühlte mich fremd.
Als ich 1978 zur Uni nach Edinburgh kam: Wow! Eine riesige Welt tat sich
auf, es war wie eine Explosion. Um mich waren Leute, die die gleiche
Musik mochten wie ich, die Dichter werden wollten und in einer Band spielen.
Und jedes Wochenende fuhr ich mit dem Zug nach Cardenden, und gab zwei
Tage lang vor, ein anderer zu sein. Montag morgen ging es wieder zurück.
Das war schizophren, ein richtiges Jekyll-und- Hyde-Ding: unterschiedliche
Persönlichkeiten in verschiedenen Lebenssituationen.
TG: In diesem Jahr bekamen Sie als erster den Edinburgh-Award,
und Sie sind neuerdings als „Deputy Lieutenant“ ein Vertreter des Stadtoberhaupts.
Werden Sie zum Mitglied der herrschenden Klasse, die Sie bisher so kritisch
beschrieben haben?
IR: Ach, das ist doch toll, dass ein Junge von nebenan
wie ich und nicht irgendein Lord Buffty-Tuffty jetzt als Deputy das Recht
hat, den Mitgliedern der königlichen Familie die Seiten der Stadt zu
zeigen, die sie sonst nicht zu sehen bekommen. Und Mitglied der Herrschenden
Klasse? Ich bleibe Außenseiter.
Mitarbeit: Martin Schöne
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in
der Literarischen Welt vom 24.11.2007
Siehe auch: Tobias
Gohlis über Ian Rankin Das Puppenspiel
Siehe auch: Tobias
Gohlis über Ian Rankin Das Souvenir des Mörders
Siehe auch: Tobias
Gohlis über
Ian Rankin Die Seelen der Toten
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