Tobias Gohlis über Mirko Schädel: Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur

 



Deutsche Krimitradition gibt es doch

Krimimuseum

Nichts, was es nicht schon mal gegeben hätte

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Mirko Schädel:

Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur im deutschen Sprachraum 1796 bis 1945

 


Alle Abbildungen
© Mirko Schädel

 

 

Dunkle Thaten kommen ans Licht

Mirko Schädels Autopsie von 150 Jahren Kriminalliteratur

In manchen Branchen kommt es sehr auf den Augenschein an. In der Kriminalistik zum Beispiel, da heißt die wissenschaftliche In-Augenschein-Nahme Autopsie. Auch in der Literaturgeschichte vertreibt manchmal erst der Blick aufs Objekt die Gespenster. Um einige der Heiligsten Kühe zu schlachten, die sich im gemeinen Bewußtsein über die Geschichte der deutschen Kriminalliteratur breit gemacht haben, mußte man bis zum Sommer 2006 erst weit in den Norden reisen, nach Butjadingen. Das ist die schmale Landzunge zwischen Weser und Jade, und dort fand man hinter Deichen und Viehweiden einen alten Bauernhof, in dem der Sammler, Bibliograph und Verleger Mirko Schädel seine Schätze aus sechzehn Jahren Detektivarbeit verbirgt. Es sind etwa 4200 ziemlich seltene Bücher.

Deutsche Krimitradition gibt es doch
Diese Sammlung widerlegt einige lieb gewordene Legenden. Die liebste Legende lautet: Bis auf ein paar Meisterwerke der Kunstliteratur (Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre, E. T. A. Hoffmanns Fräulein von Scudéry, Droste-Hülshoffs Judenbuche etc.) gäbe es keine Krimitradition in Deutschland. Oder: Die Nazis hätten keine Krimis zugelassen. Und: Fremdsprachige, vor allem englische und amerikanische Detektiv- und Kriminalromane wären erst nach 1945 in großem Umfang übersetzt worden. Alles falsch!
Schon 1856 war die Krimilesesucht in Deutschland so weit verbreitet, dass sich Carl von Holtei in seinem Kriminalroman Schwarzwaldau (Nachdruck 2006, www.alte-krimis.de) bereits über die grassierende Doppelmoral mokieren konnte: "Während Kritik und feiner Geschmack Criminal=Tragödien verabscheuen, Criminal=Romane achselzuckend verdammen, greifen wir Alle verstohlen nach jedem Bericht, auch nach dem trockensten Auszug von gerichtlichen Verhandlungen über große Verbrechen; der Recensent nicht minder als wir." Ja, die feinen Unterschiede. Wie aufwendig die Krimilektüre als heimliches Laster gepflegt wurde, kann Schädel mit einem prächtig rot in Leinen mit Goldprägung gebundenen Buch demonstrieren. Es handelt sich um Emile Gaboriaus Reißer Der Strick am Hals. 1873 war er ursprünglich in vier Papp-Bänden erschienen. Doch für die fürstliche Bibliothek, aus der Schädels Exemplar stammt, mussten sie vom Hofbibliothekar renommierlich gebunden werden. Der krimisüchtige Fürst war übrigens ein Herr von der Leyen.

Krimimuseum
Die Reise nach Butjadingen wird sich demnächst wieder lohnen. Schädel errichtet dort ein kleines Museum mit seinen Schätzen. Um was es sich dabei handelt, kann man seiner gerade erschienen Illustrierten Bibliographie der Kriminalliteratur im deutschen Sprachraum 1796 bis 1945 entnehmen. Knapp neuntausend Einzeltitel hat er für diesen Zeitraum erfaßt, ausschließlich Kriminal-Fiktion! Ausgeschlossen hat er Abenteuer- und Jugendkrimis, ebenso die riesige Masse aus den Akten erzählter "wahrer Verbrechen", die im 19. Jahrhundert Familienblätter wie Die Gartenlaube (seit 1853) oder Daheim (ab 1864) füllten. Neuntausend Titel! Das reicht von Heftromanen mit 64 oder 96 Seiten bis zu mehrbändigen Schmökern, von Carl Friedrich Müchlers Criminalgeschichten (1792) über die deutschen Thrillerladies Auguste Groner (alias M. Renorga, Olaf Björnson) und Jenny Hirsch (auch: Franz von Busch, F. Arnsfeld) um 1900 zu allerersten deutschen Agatha- Christie- Titeln (1927), bis zu einem Fred Andreas, der in der Reihe Neuzeitliche Kriminalromane 1944(!) Das vollkommene Verbrechen veröffentlichte.
Doch absolut einzigartig an dieser Bibliographie sind die Illustrationen. Die ganze herrliche Welt "menschlicher Schlechtigkeit" und "gemeiner Laster" – wie von Holteis Baronin Caroline näselt – wird in ca. 1200 Abbildungen von Buchtiteln offenbar. Alles was neu war, ob Jugendstil oder Fotomontage, wurde offenkundig sofort in den Dienst der Sensation gestellt. Man traut seinen Augen nicht: Da pafft Luis Trenker auf Egon Eis' Schuß im leeren Haus seine Pfeife, da spinnt eine Venus Vulgivaga ihr dämonisches Netz. Nichts, was es nicht schon mal gegeben hätte. Ein Heinz Schmeidler schuf mit Sperma-Type D1 1931 einen Meilenstein des "medizinisch-kriminalistischen" Romans. 1900 sucht Auguste Groner bei der Deutschen Verlagsanstalt archäologiekriminalistisch nach dem Pharaonenarmband und sendet 1902 einen geisterhaften Brief aus dem Jenseits.

Nichts, was es nicht schon mal gegeben hätte
Das alles war einigen spezialisierten Wissenschaftlern nicht unbekannt. Aber keiner hat zuvor die in deutscher Sprache verbreitete Kriminalliteratur so anschaulich machen können wie Schädel. Denn die meisten Titel waren (frühe Taschenbücher vor Erfindung der Rotationsromane!) schlecht gebunden, oft nur mit Papp- oder Papierdeckel. Sie mußten als "Eisenbahnausgabe" preiswert sein, wie die Criminalbibliothek des großen 1848ers, Demokraten und Rechtsgelehrten Jodocus Donatus Hubertus Temme, und beendeten, wurden sie nicht von Fürstens nobilitiert, aus Altersschwäche und unterm Schundliteraturverdikt frühzeitig ihr Dasein. Ganze Forschungszweige können sich an dieser Bibliographie neu entzünden, nicht nur die Literaturgeschichtsschreibung, der vieles hier Visualisiertes so nicht vor Augens stand. Hunderte von Büchern, die Schädel in Augenschein genommen und abgebildet hat, sind in den meisten Bibliotheken, wenn überhaupt, nur noch als Mikrofiche verfügbar. Ob zum Leseverhalten aller Bildungskreise oder zur Alltags- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, in die die Krimis dramatisch Einblick geben – hier ist ein weites Feld für Neuentdeckungen. Holen wir uns unsere Krimigeschichte zurück!

 

 

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 45 02.11.2006