Der Kriminalroman
ist eher ein journalistisches Genre
Krimis sind Nachrichten
aus der Wirklichkeit...
Marthaler war gar kein 68er
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In der Gartenkluft
Der Schriftsteller, Journalist und Polemiker Matthias Altenburg
schreibt unter seinem Pseudonym Jan
Seghers Kriminalromane. Matthias Altenburg läßt Kriminalkommissar
Robert Marthaler in Frankfurt ermitteln. Mit Seghers/Matthias Altenburg
sprach Tobias Gohlis.
GOHLIS: Warum haben Sie nach einer ansehnlichen literarischen Karriere
eines Tages beschlossen, Jan Seghers zu werden?
MATTHIAS ALTENBURG: Ich hatte schon länger vor, einen Kriminalroman
zu schreiben, aber ich wußte nicht, wie das auf angemessene Weise
europäisch gehen soll. Ich hatte viel Hammett und Chandler gelesen,
mochte aber nicht, wie sie in Deutschland immer wieder fortgeschrieben
wurden, mit dieser lakonischen Ermittlerhaltung: Der Detektiv hat ständig
die Füße auf dem Schreibtisch, die Zigarette im Mundwinkel
und hört Cool Jazz. Das hatte sich überlebt. Henning
Mankell wurde für mich zum Katalysator. Er hat den europäischen
Krimi neu erfunden, hat ihn neu ernstgenommen und nicht mit den Versatzstücken
des Genres gespielt.
GOHLIS: Aber um ihm nachzueifern mußten Sie doch nicht ein anderer
werden. Mankell schreibt als Mankell selbst Kinderbücher.
MATTHIAS ALTENBURG: Ich mußte in eine andere Haut schlüpfen.
Für mich selbst. Nicht als Versteckspiel fürs Publikum. Ich
mußte die Klamotten für die Gartenarbeit wechseln.
GOHLIS: Und den Namen Jan Seghers haben Sie aus Ihrer Familie entliehen?
MATTHIAS ALTENBURG: Nein. Seghers ist eine Verneigung vor der großen
Erzählerin Anna Seghers. Das "Seghers" war bei ihr schon
Pseudonym. Sie hat sich nach einem Maler der Rembrandtzeit benannt, Hercules
Seghers. Dieses Pseudonym eines Pseudonyms fand ich schon lustig. Und
der Jan sollte Jan Ullrich auf der Tour de France helfen. Hat nicht geklappt.
Hoffen wir mal aufs kommende Jahr.
GOHLIS: Durch Kriminalromane ist Anna Seghers aber nicht gerade hervorgetreten.
MATTHIAS ALTENBURG: Nein, aber sie hat den Gesellschaftsroman sehr, sehr
ernst genommen. Sie hat verständlich und mit großer literarischer
Fertigkeit große Romane geschrieben. Und das ist für einen
Krimiautoren eine schöne Referenz.
GOHLIS:: Wenn Sie sich nun für die Gartenarbeit umgezogen haben:
Wer ist denn das im neuen Gewand? Was passiert, wenn MATTHIAS ALTENBURG
Jan Seghers wird?
Der Kriminalroman ist eher ein journalistisches Genre
MATTHIAS ALTENBURG: Mit der eigenen Befindlichkeit hat das wenig zu tun,
mehr mit dem Schreiben. Wenn man an einem Kriminalroman schreibt, kann
man um einiges unbelasteter von den Gesetzen der modernen Literatur schreiben.
Man ist nicht mehr so befangen. Wer avancierte Literatur schreibt, muß
die Gattung des Romans fortschreiben. Der Kriminalroman ist eher ein journalistisches
Genre. Andererseits muß man natürlich schon die Gesetze des
Kriminalromans beachten. Man ist einerseits freier, steckt aber gleichzeitig
in einem neuen Korsett. Wahrscheinlich wäre es mir inzwischen egal,
wie ich heiße, wenn ich mich an den Schreibtisch setze. Für
den Anfang war es jedenfalls einfach wichtig.
GOHLIS: Der Kriminalroman als journalistisches Genre... Man kann sich
aber auch auf einen anderen Standpunkt stellen und behaupten: Kriminalromane
sind Kunstwerke, gehen im literarischen und gesellschaftlichen Anspruch
weit über die Nacherzählung eines Kriminalfalls hinaus.
MATTHIAS ALTENBURG: Ich unterscheide grundsätzlich zwischen dem Kriminalroman,
also dem Schreiben in einem Genre, und Kunst. Für mich ist das Schreiben
eines Kriminalromans ein kunstvolles Handwerk. Natürlich kann ein
Kriminalroman kunstvolle, künstlerische Elemente haben. Aber da ich
auch die andere Seite kenne, weiß ich, daß ich für 500
Seiten Kunst etwa zehnmal so lange brauche wie für 500 Seiten Krimi.
Man konzentriert sich viel stärker auf den Inhalt und auf die Handlung
als auf das Sprachlich-Formale. Die Übergänge sind fließend.
Der Krimi hat die gesamten Versatzstücke der Moderne übernommen
- den schnellen Schnitt, den Perspektivwechsel, den inneren Monolog.
GOHLIS:: Welche Funktion hat denn ein Kriminalroman? Schiere Unterhaltung
wäre Ihnen doch selbst in Gartenkluft zu wenig.
Krimis sind Nachrichten aus der Wirklichkeit...
MATTHIAS ALTENBURG: Der Krimi hat die Aufgabe der Medien übernommen.
Als ich das sogenannte Fernsehduell zwischen Schröder und Merkel
sah, ist mir das klargeworden. Wie die Medien diesem Event zu Füßen
lagen, dachte ich, die simulieren ja alle selber nur noch. Und wenn die
Massenmedien sich ganz der Simulation verschreiben, dann muß die
Literatur in die Bresche springen und wieder Realität in die Texte
bringen. Das Lesepublikum ist hungrig auf Realität.
Und Krimis sind Nachrichten aus der Wirklichkeit...
GOHLIS: Die Wirklichkeit in Ihren Krimis ist die Frankfurter Wirklichkeit.
Gleichzeitig aber ist doch die Wirklichkeit von mehr bestimmt als von
einer Frau, die plötzlich nackt aufgefunden wird und nur mit einem
Brautschleier bekleidet den Hintern in die Luft reckt?
MATTHIAS ALTENBURG: Das sehe ich ganz genauso. Der Krimi ist ein Vehikel
dafür, einen Gesellschaftsroman zu erzählen. Es gibt vielleicht
zehn Kapitalverbrechen und die werden in Krimis vielleicht tausendfach
variiert. Entscheidend ist also, was der Autor sonst noch liefert - interessante
Geschichten, glaubwürdige Figuren, spannende Rechercheergebnisse,
Schauplätze mit bestimmter Atmosphäre... Es gibt unglaublich
viele Möglichkeiten, die man in den Text hineinfächern kann.
GOHLIS: Nun sind Sie ein politischer Mensch, und der Kriminalroman ist
nicht nur ein realistisches, sondern auch ein sozialkritisches Genre.
Wieviel Sozialkritik sollte der Kriminalroman transportieren?
Marthaler war gar kein 68er
MATTHIAS ALTENBURG: Man nimmt sich das nicht vor. Das Soziale kommt von
selbst hinein. Es ist nicht die Aufgabe der Autoren anzuklagen, daß
zum Beispiel viele Menschen heute in Mülltonnen wühlen müssen,
sondern das zu zeigen, zu beschreiben. Es zu beschreiben, heißt
es zu kritisieren.
GOHLIS: Bei Mankell scheint Kommissar Wallander jene Rolle zu übernehmen,
die heute viele alte Achtundsechziger einnehmen, die damals rumdemonstriert
und K-Gruppen aufgebaut haben. Jetzt sind sie alle mehr oder minder saturiert,
in berufliche Zwänge eingebunden und lamentieren in sich hinein.
Worin unterscheidet sich denn Ihr Kommissar Robert Marthaler von Kurt
Wallander?
MATTHIAS ALTENBURG: Er ist nicht ganz so depressiv, entfernt sich zunehmend
vom Polizeiapparat und entwickelt sich ein Stückchen nach links,
je genauer er hinschaut. Insofern tut ihm der Vergleich mit den 68ern
ziemlich Unrecht, die sich doch inzwischen alle an die Töpfe der
Macht begeben haben und in die Weinerlichkeit verabschiedet haben.
GOHLIS: Das heißt: Marthaler war gar kein 68er?
MATTHIAS ALTENBURG: Der wird einer...
Veröffentlichung in DIE LITERARISCHE WELT: Nr.
48 vom 3.12.2005
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