Tobias Gohlis über Peter Temple: Wahrheit




Wahrheit: Eine Stute

… als spräche die Realität

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Peter Temple:
Wahrheit

Aus dem Englischen von Hans M. Herzog

 

 

Australien dunkel

Grandiose Kopfnotizen eines Polizeiermittlers

Als Peter Temple 2010 für seinen Kriminalroman Truth den wichtigsten australischen Literaturpreis, den Miles Franklin Award, erhielt, war das ein Kulturbruch. Ein Krimiautor in einer Reihe mit Patrick White, Peter Carey oder David Malouf? Bis dahin undenkbar. Der britische Guardian verglich United Kingdom und fragte: Könnten eine Ruth Rendell oder ein Ian Rankin jemals den Booker Prize bekommen? " Das wird niemals geschehen", antwortete ein Juror dem Guardian. "Man schickt auch keinen Esel zum Grand National."

Wahrheit: Eine Stute
Eine Pferderennen-Anspielung, die über Bande zurück zu Wahrheit führt, wie Temples ausgezeichneter Roman auf Deutsch heißt. Wahrheit im herkömmlichen oder pathetischen Sinn kommt darin allerdings nicht vor, erst recht keine kriminaldetektorisch überhöhte Wahrheit, die hinter Verschleierungsmanövern und Lügengebäuden gefunden werden muss. Nein, die einzige Wahrheit, die Stephen Villani, Leiter der Mordkommission von Melbourne, je kennen und lieben gelernt hat, war ein Pferd, das beste Rennpferd, das sein Vater Bob je hatte, "eine fantastische kleine Schimmelstute namens Wahrheit, die (…) nie aufgab". Doch die kleine Stute ist verstorben, und Villani hetzt von crime scene zu crime scene. Die Kunstfertigkeit eines (Kriminal-) Romanautors erweist sich unter anderem in der Fähigkeit, seinem Publikum Geschehnisse aufzubürden, denen es im alltäglichen Leben großräumig ausweichen würde. Temple lässt seinen Lesern wie seinen Protagonisten keinen Raum zum Innehalten. Seine Prosa wirkt, als sei sie im Laufen diktiert, atemlos, nur das Wichtigste festgehalten, Sätze ohne Anfang und Ende, Kopfnotizen eines Todesermittlers, dessen Tag und Nacht nur von Essen, Schlafen und Anrufen strukturiert werden. Anrufen zu Leichenfundorten. Dem Leser wird vom ersten Satz an detektivische Aufmerksamkeit abverlangt, für Namen, Zusammenhänge, für die Bedeutung von Bemerkungen. Nichts ist Metapher oder Symbol, alles ist Fakt.

… als spräche die Realität
selbst Die nackte Leiche einer sehr jungen Prostituierten, die in einer gläsernen Badewanne liegt. Genickbruch beim Verkehr mit Männern, die das hermetisch gesicherte Luxushochhaus weder betreten noch verlassen haben können, denn die Supersicherheitsanlage hat keinen digitalen Hinweis auf ihre Existenz gespeichert. Die teilgehäuteten und durch Folter verstümmelten Leichen dreier Männer in einem Lagerhaus. Ganz oben Luxus, ganz unten Drogenszene –Villani sind Status und Renommee gleich, auch die auf ihn einprasselnden Versuche von Polizei- und Politbossen, seine Ermittlungen für den laufenden Wahlkampf zu instrumentalisieren. Selbst den Drogentod seiner 15jährigen Tochter scheint Villani von der Agenda wischen zu können. Es ist die Berufswirklichkeit eines gehetzten Mannes, so brüchig, so flackerig, so dicht erzählt, als spräche die Realität selbst. Das ist die Kunst: die Kunstlosigkeit. Der Alltag, durch den Villani und seine Leute jagen, ist Australien 2010. Ein anderes gibt es nicht, nicht mal am Horizont mit seinen Sonnenauf- und Untergängen. Politische Intrigen, Trennungen, Prostitution, Mord, Verrat, mordende Polizisten, mordende Manager, mordende Jugendliche, Alkohol, Drogen, Überwachung, Rassismus, Staub und Gestank. Temples Wahrheit ist Überschreibung der Sonnenseite: Australien ist dunkel.

Unredigiertes Manuskript, DIE ZEIT Nr. 15 vom 7.4.2011

Siehe auch: Tobias Gohlis über Peter Temple: Kalter August