Tobias Gohlis über Fred Vargas: Das Orakel von Port-Nicolas




Es stinkt nach Hundekot

Wie ein Archäologe

Vargas’ Krimis schaffen Unordnung

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Fred Vargas: Das Orakel von Port-Nicolas. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel

 

 

 

 

 

Der Zeh aus Finistère

Alle, auch die fernsten Indizien, gelangen irgendwann nach Paris. Place de la Contrescarpe: Auf der öffentlichen Bank Numéro 102 sitzen zwei Männer. Der eine schneidet aus einem Packen Zeitungen Artikel aus. Der andere hat eine Kröte aus der Jackentasche geholt und neben sich gesetzt. Aus einer Plastiktüte nimmt er Zettel, Papier und Manuskriptblätter. „Was übersetzt du?“ „Ein Buch über das Dritte Reich.“ Nach einer Weile erhebt sich der krötenhaltende Übersetzer. Ein kleiner heller Gegenstand am Schutzgitter eines Baumes hat seine Aufmerksamkeit geweckt.

Es stinkt nach Hundekot
Kurz darauf legt der Krötenfreund dem leitenden Kommissar des 5. Arrondissements den weißlichen Gegenstand auf den Tisch, der nach Hundekot stinkt. Ultimativ verlangt er, der Kommissar solle nach Toten und Vermissten forschen. Ein Mord sei geschehen. Beweis: das Fundstück. Der Kommissar wittert, dass er vorgeführt werden soll. Er kennt doch menschliche Knochen. Das ist keiner. Doch, sagt der Krötenmann und weiß, dass er jetzt den Kommissar in der Tasche hat.
Bisher begann Fred Vargas ihre Kriminalromane mit einem Aufsehen erregenden Ereignis. Blaue Kreidekreise auf den Pariser Trottoirs entpuppen sich als verschlüsselte Signale eines Serienmörders (Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord). Über Nacht taucht ein Baum im Garten einer Stadtvilla auf (Die schöne Diva von Saint-Jacques). Fred Vargas ist in einem Beruf Archäologin, im zweiten Kriminalschriftstellerin, und zwar die beste in Frankreich. Fred Vargas, das hat sie mit Gespür für PR-Effekte hingekriegt, ist kein Mann und heißt auch nicht Vargas. Fred kürzt eine „Frédérique“ ab, Vargas nennt sie sich nach der spanischen Tänzerin, die Ava Gardner 1954 in Die barfüßige Gräfin spielte. Zu Beginn ihres jüngsten Romans Das Orakel von Port-Nicolas legt Vargas ein höchst rätselhaftes Clue aus, doch das Beweisstück ist so unscheinbar und vor allem so deponiert, dass es nur ein Meisterdetektiv als solches erkennen kann.

Wie ein Archäologe
Die Archäologin zeigt einen Detektiv, der wie ein Archäologe arbeitet. Louis – oder Ludwig, wie man will – Kehlweiler war Ermittlungsbeamter im Innenministerium. Doch die französische Justiz ist auf den Hund gekommen und hat ihn, den Besten, entlassen. Nun ermittelt der Pensionär im Altmännerdialog mit Bufo, seiner Kröte, auf eigene Faust. Kehlweiler ist ein Beobachter, ein „Seher“, Bank 102 sein Beobachtungsstand. Er weiß, das sein Fundstück ein Zehenknochen ist, porös und zersetzt von der Magensäure eines Hundes, der ihn irgendwo von einer Leiche abgebissen und an der Place de la Contrescarpe wieder ausgeschieden hat. Um die Leiche zu entdecken, gilt es den Hund zu finden. Dann kann er den Kommissar abschießen, der den Knochen nicht als Indiz erkennen wollte. Rache und Aufklärung: Kehlweiler treibt mehr als ein Motiv. „Er hatte es immer verstanden, Schmutz aufzuspüren, er kriegte es nicht fertig, etwas auf sich beruhen zu lassen.“

Vargas’ Krimis schaffen Unordnung
Kehlweiler verkörpert Vargas’ These, der Kriminalroman schaffe nicht Ordnung, sondern Unordnung. In diesem Fall wollen sie alle nicht gestört werden. Der Kommissar will kein Rätsel lösen. Kehlweilers Banknachbar möchte in Ruhe Artikel ausschneiden, und auch die drei anstellungslosen Historiker Marc (Mittelalter), Mathias (Prähistorie) und Lucien (Erster Weltkrieg) lassen sich nur unwillig vom hüftlahmen, alten Bullen aus ihren Forschungsgebieten reißen. Doch alle werden gebraucht, um der Herkunft des Knöchleins auf die Spur zu kommen, die nach Port Nicolas ans äußerste Ende Frankreichs, nach Finistère führt, wo nicht nur der Hund, das angeknabberte und weitere Opfer gefunden werden, sondern auch ein Rest von Kehlweilers ganz persönlicher düsterer Weltkriegsfamiliengeschichte aufgeklärt wird.
Dass Vargas mit einem Objet trouvé beginnt, ist Programm. Es sind Träumer, Außenseiter mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, dämonische Hasser wie der „Deutsche“ Kehlweiler, die in ihren Romanen die Welt in Unordnung bringen. Sie operieren nicht in Frankreich, sondern im Netz der Begriffe und Zeichen, in den gekrümmten Räumen verschütterter Sehnsüchte, unausgelebter Träume, verhohlener Gier. Provinz und Zentrale bilden die magischen Pole Ab und Schaum, zwischen denen die Wahrheit verborgen ist. Es ist, wie immer bei Vargas, der Schülerin von Leo Malet, Norbert Jacques und Boris Vian, eine surreale, geboren aus der Gier nach einer Maschine, verborgen unter einer Maschine, die Wahrheiten ausspuckt. Wie lautet noch der Slogan? „Es ist unmöglich, von Vargas nicht gefesselt zu sein.“

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 2 vom 3.1.2002

Siehe auch: Tobias Gohlis über Der verbotene Ort

Siehe auch: Tobias Gohlis über Der vierzehnte Stein

Siehe auch: Tobias Gohlis über Die dritte Jungfrau

Siehe auch: Tobias Gohlis im Gespräch mit Fred Vargas