Tobias Gohlis über Jean-François Vilar: Die Verschwundenen

 


Im Nebeneinander der Bilder

Große Historie – private Täuschung

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Jean-François Vilar:
Die Verschwundenen

Aus dem Französischen v. A. Stephani u. B. Heber-Schärer

 

 

 

Geiseln der Zeit

In einem grandiosen historischen Roman Noir verknüpft
Jean-François Vilar Paris 1938 mit Prag 1989

Tausendeinundzwanzig Tage waren Victor B. und Alex Katz Geiseln einer ominösen Guerillaorganisation in lateinamerikanischen Wäldern. Befreit zurück in Paris, immer noch rätselnd, wer ihnen warum das angetan hat, verabreden sich die beiden Zwangskameraden. Doch bevor sie zusammenkommen, wird Victors Geiselfreund beim Zusammenprall mit einem LKW aufgespießt.

Im Nebeneinander der Bilder
Verbrechen oder Zufall oder Verstrickung? Nicht zufällig haben sich die beiden an einem Ort von historischer Bedeutung getroffen. In der Librairie du Travail waren einst die sozialistischen Gegner des 1. Weltkriegs, die Zimmerwalder, zusammengekommen. Victor B. kehrt in seine leere, während der Abwesenheit ausgeraubte Wohnung zurück. Hier beginnt der vorübergehend aus der Geschichte Gerissene sich seines Stands in der Welt zu versichern. Victor ist Fotograf und hat eine Obsession: Zu jedem Tagesdatum merkt er sich historische Ereignisse. Er lebt in keinem Kontinuum, sondern in einem Nebeneinander historischer Ereignisse und Bilder. Seine Recherche im Ziellosen beginnt am 13. November 1989, an einem Tag, dessen historischer Ort noch nicht feststeht: Todestag von Dolores Ibárruri, der Pasionaria des spanischen Bürgerkriegs, oder Tag 4 nach dem Fall der Mauer. Was bedeutet ein Verbrechen in einer Welt von Verbrechen? Jean-François Vilar, Jahrgang 1947, gibt in seinem komplexen und raffiniert die Zeiten wechselnden Roman Noir Die Verschwundenen eine faszinierende Antwort. Sein Protagonist ist nicht zu fällig Fotograf. Das fertige, scheinbar unumstößlich für sich stehende Bild fixiert nur eine willkürliche Interpretation der Wirklichkeit. Der Roman geht erzählend zurück ins Labor: je nach Belichtungsdauer und Einwirkung des Entwicklers treten ganz verschiedene Bildaspekte des Negativs zum Vorschein. Keineswegs zufällig spielt Man Ray, der surrealistische Komponist der Photomontage eine wichtige Nebenrolle.

Große Historie – private Täuschung
Victor B. gerät in Besitz eines Tagebuchs. Der Vater seines Kameraden, der Korrektor, Dichter und Trotzkist Alfred Katz hat es 1938 geführt. 1938 war ein Schreckens- und Schaltjahr. Katz nimmt teil an der berühmten Ausstellung der Surrealisten (hier nutzt Vilar brillant das Motiv der virtuellen Stadt), lernt den Trotzkimörder Ramón Mercader kennen, begegnet Herschel Grynspan, dessen Anschlag auf einen deutschen Diplomaten Anlass der Novemberpogrome wurde, gerät selbst in die Mordaktivitäten des stalinistischen NKWD. Im rasenden Durcheinander von Verfolgung und Geheimbündelei glüht seine Liebe zur Erotikerin Mila auf. Paris 1938 — Vilar rekonstruiert in fantastisch faktentreuen Streifzügen das erotische, künstlerische, revolutionäre Milieu jener Zeit, eine Hommage an die verschwundenen Aufrechten. Und löst, im Ortswechsel nach Prag und zur Revolution 1989 die ganze verzwickte Privathistorie als große Privattäuschung auf. Ein großes Buch, von radikaler Wahrhaftigkeit und Kunst.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 44 vom 23.10.08.