Roger Willemsen: Deutschlandreise
  Tobias Gohlis über Roger Willemsen: Deutschlandreise



Chinese mit Knutschfleck

Willemsens Verfahren

Immer das Gleiche

Un-Freier im Puff

Der Zorn des Schafes

Kein richtiges Deutschland im falschen

Scheibenweltler Willemsen

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Roger Willemsen: Deutschlandreise

 

 

 

 

 

Alles falsch

Roger Willemsen verzweifelt an Deutschland

Wer glaubt, Willemsen würde Deutschland anders als Willemsen durchreisen, sieht sich getäuscht. Rastlos, Notizblock griffbereit, ist der fernsehmüde Moderator im letzten Jahr durch Deutschland geeilt, unterbrach hier für ein Gespräch, dort für eine Beobachtung, und fand, womit er gerechnet hatte.
Zum Beispiel Trier: „Aus der Stadt raus, Luxemburg zu. Erst das ,Tiefkühlparadies’, drei Häuser weiter die Matratzenfabrik, dann ein Plakat mit dem Schädel Roman Herzogs und dem Slogan: ,Durch Deutschland muss ein Ruck gehen’. Der geht durch Deutschland genau gegenüber. ,Zum Hühnerstall’ heißt das Eroscenter und hat auf seiner Schauseite die Imitationen alter Fresken mit Nackten in zweideutigen Positionen, die man im Eroscenter vermutlich nicht wiedersieht. Dann das Wasserbettenzentrum, ,Life/style in Langsur’, ,Faszination Glaskunst’ und keine Lebensmittel, aber Wellness. Zuletzt echte Alleen, echter Mischwald.“ Oder die „Verlierer der Einheit“ in Frankfurt/Oder: „Alles, was sie konservieren, ist die Kioskkultur. An dieser niedrigsten gastronomischen Form lagern sich die Leute an wie in einer chemischen Verbindung mit freien Wertigkeiten.“ Aperçus, wie von Willemsen.

Chinese mit Knutschfleck
Kreuz und quer ist er herumgefahren, von Sylt bis zur Wieskirche. In St. Paulis „Ritze“ stößt er auf „menschliches Strandgut“ und am Bahnhof Zoo auf Deutschland-Merkmal Nummer Eins, den Service. Dort notiert er Slogans von Plakaten: „Bunte Geschäfte rein. Dunkle Gestalten raus. Aktion freundlicher Bahnhof.“ Am Bahnhof in Bonn sieht er zum ersten Mal in seinem Leben einen Chinesen mit Knutschfleck und erinnert sich, dass dort früher eine Rotlichtbar für den „Weltsexreport mit mehreren Liebestollen“ warb. In der Universität Rostock nimmt er Namensschilder ab: „Vor dem Zimmer von Prorektor Erbguth und der Altertumswissenschaftlerin Frau Frühauf flucht eine Studentin leise über einem Stapel schwarzer Fotokopien.“

Willemsens Verfahren
Mich reizt es, Willemsens Verfahren zu rekonstruieren. Ein Anruf in Rostock. Frau Frühauf von der Fachbibliothek der Altertumswissenschaft: „Mit einem Professor Erbguth habe ich nichts zu tun, die Juristen sitzen doch ganz woanders, und Altertumswissenschaftlerin bin ich auch nicht“. Sie ist Bibliothekarin, „und ein Herr Willemsen hat sich hier nicht vorgestellt“. „So funktioniert Literatur. Willemsen hat sich halt sprechende Namen zusammengesucht.“ „Die hätte er auch aus dem Internet haben können.“
Willemsen fuhr durch Deutschland und suchte Zeichen. Hin und wieder werden aus den Kaleidoskopbildern seiner Eindrücke feine Miniaturen. Doch: „Weh dem, der Symbole sieht!“ seufzt er wissend am Potsdamer Platz. Und hat selten was anderes gesehen.
Am liebsten hat er Deutschland von ferne, da schaut es noch schön aus. Geht Willemsen nah ran, wächst sein Missmut und entlädt sich in Pointengewittern. Bravourös: Die Menschen, die er auf dem Flur des Naumburger Arbeitsamts trifft, nennt er „designierte Arbeitnehmer“. Das lässt aus ganzen Hartz-Kommissionen die Luft raus. Im Frankfurter Bankenviertel bemerkt er: „Hier zwischen den Hochbauten ist gewissermaßen das Unterholz der Dekadenz“. Was kann man da noch sagen? Glänzend mischt er Heine- mit Eichendorff-Ton: „Das eigentliche Gedächtnis des Ostens, das sind die Paläste der Industriearchitektur, von Ranken, wilden Malven umflochten, die Ruinen von Scharfgarbe und Holunderdolden umflort, wie auf den Vignetten von Märchenbüchern. Nachdem ein Betrieb nach dem anderen eingeschläfert wurde, entsteht hier eine Wiedervereinigungs-Vegetation...“

Immer das Gleiche
Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts, von Willemsen gesehen: Das ist ein Konglomerat von Einkaufszentren, falschen Versprechen und Hässlichkeit. Wohin er auch fährt, ihm widerfährt immer das Gleiche. Magdeburg: „Wo ich die Stadt vermutete, türmen sich Waren auf und hinter Waren neue Waren.“ In Konstanz riecht der Rezeptionist aus dem Mund nach gegrilltem Hähnchen. Im Zug am Schwarzwaldrand löffelt er Yoghurt: „Ist das Vanille? Nein, es sind naturidentische Aromen. Ist das da draußen ein Wald oder eine natur-identische Baum-Ansammlung?“ Willemsen eilt durch Deutschland wie ein Nomade auf Suche nach frischem Wasser und macht uns zu Komplizen seines Verdurstens.
Manchmal, zu selten, verlangsamt er den Sauseschritt. Dann ist im Kernschatten, den er wirft, ein Erzähler zu erkennen. Am nachhaltigsten bleiben die Passagen in Erinnerung, die aus einem Innehalten entstanden sind: längere Gespräche mit einer Mitreisenden auf Rügen, ein pointenfreier Nachmittag am Rheinufer.

Un-Freier im Puff
Einmal, in der Mitte der Deutschlandreise, erzählt Willemsen die Geschichte einer Heimkehr. Nach einer Abiturfeier seiner Schule schlendert der Schlaflose über den Busbahnhof, entdeckt dort einen ehemaligen Klassenkameraden, ein Eingeschlossener im Kartenschalter. Willemsen begrüßt ihn nicht, doch aus dem Gedächtnis taucht die Erinnerung an einen verkorksten Bordellbesuch mit jenem Schlottke auf. Er wiederholt den Besuch im Bordell. „Mein Prostitut“ Nadine, die Wäsche erinnert ihn an „das braune Transparentpapier von Pralinen-Verpackungen“, kopiert „nicht schlecht“ was man ihr im Fernsehen „als Lust vorgespielt hat“. Doch Un-Freier W. schaut nicht sie, sondern TV, wo gerade Werbung für ein Enthaarungsmittel läuft. Das Debakel endet in eiliger Flucht.
Eine Anekdote, mit Verneinungen barrikadiert wie ein Kafka-Text. Willemsen erzählt sie, um zu zeigen, was falsch läuft in Deutschland. „Nichts ist Gefühl, alles Gefühle“. Ihm geht es mit Deutschland wie mit Nadine: Die Signalschleier aus TV-Posen und Mediensprech machen ein Durchkommen unmöglich.

Der Zorn des Schafes
Erich Loest, auch ein Deutschlandgeschlagener, kennt das Gefühl, aus dem Willemsen beobachtet und schreibt. Er hat es, bezogen auf sich und seine sozialistischen Hoffnungen, „Zorn des Schafes“ genannt. Es ist die Wutscham, die entsteht, wenn man etwas in der Hoffnung tut, das Vorausgesehene und Befürchtete werde wider Vernunft und Erwarten nicht eintreten; es ist die enttäuschte Sehnsucht nach einem Wunder. Wie alle anderen an Deutschland Leidenden schreibt Willemsen aus Liebe zu Deutschland. Doch seine Liebe ist nicht vergeblich, sondern von vornherein unmöglich. Auch wenn er trotzig klagt: „Man wird die Ironie nicht los. Sie ist keine Eigenschaft des Geistes, sondern der Sachen.“
Man könnte es sich einfach machen und sagen, das Deutschland, das Willemsen sucht, will er ja gar nicht finden. Sonst würde er eine Reisemethode wählen, die ihn offen werden lässt, statt ihn hinter den Wortkaskaden seiner Einfälle gegen jedes Erstaunen und jede Erschütterung zu verpanzern. Willemsen riecht nur Übles, hört selten, schmeckt gar nichts und wenn er die Augen öffnet, erblickt er Phrasen: Slogans oder in die Menschen eingedrungene TV-Gesten. Willemsen kann nicht offen sein, weil er „Offenheit“ bereits vor dem Aufstehen als Verblendungszusammenhang identifiziert hat, als Uneigentlichkeitskommando aus dem allfälligen, übermächtigen Psychogeschwätz der Medien.

Kein richtiges Deutschland im falschen
Die Bemerkung Tucholskys, dass eine „Reisebeschreibung in erster Linie für den Beschreiber charakteristisch ist, nicht für die Reise“, gilt auch für die Deutschlandreise. Den Medien-Ekel, der den Fernsehmann Willemsen befallen hat, projiziert der Intellektuelle auf die vorgeblich gesuchte Ursprünglichkeit. Doktrinär und narzisstisch wie nur je ein Kind der fünfziger Jahre erhebt er seine Haltung zur generellen Maxime: „Vermutlich würde es den Menschen das Sprechen über ihr Land erleichtern, wenn sie sich alle als Heimatvertriebene erkennen wollten, davongejagt aus künstlichen Paradiesen. Von der Heimat lohnt es sich nur zu sprechen als von einem Mangel, dem Inbegriff des Verlorenen.“ Das ist es: aus künstlichen Paradiesen kann man nicht verjagt werden, man kann nur den Glauben daran verlieren. In den Jahren nach Adorno schien alles dem Ideologieverdacht anheimgefallen, für Willemsen unterliegt alles dem Falschheitsverdacht. Es gibt kein richtiges Deutschland im Falschen. Und sehr selten echten Mischwald.

Scheibenweltler Willemsen
Dass hinter dem Menschen zugewandten Lächeln des Moderators das verzweifelte Weinen eines einsamen klugen Kindes verborgen ist, hat man ahnen können; in der Deutschlandreise wird die Verzweiflung deutlich als grandiose Wut. Willemsens Deutschlandreise nimmt sich in manchen aus wie Terry Pratchetts Science-Fiction-Konstruktion einer zweidimensionalen Scheibenwelt: keine Geschichte, kaum Tiefe, grandiose Fläche, beschränkt und doch genial entworfen. Dem Erzähler Willemsen möchte man raten: Schreib’s auf, Roger!

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Literaturbeilage Oktober 2002