Kaum mehr als Gerüchte
Aufklärung in der VR
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Qiu Xiaolong: Tod einer roten Heldin. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach |
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Die Geheimnisse von Shanghai
Chen Cao müßte überglücklich sein. Obwohl sein Vater ein Intellektueller war, wurde er nicht aufs Land geschickt, um von armen und unteren Mittelbauern umerzogen zu werden. Er hatte sogar das Fach seiner Wahl studieren dürfen, Englisch, und am Fremdspracheninstitut in Peking. Einer Wende in der Kaderpolitik - aufstrebende Jungakademiker sollten den neuen Geist der Modernisierung in den staatlichen Apparaten förden - verdankt er eine Anstellung bei der Shanghaier Kriminalpolizei. Und nun ist er sogar -mit Dreißig! - zum Oberinspektor befördert worden und hat, vorbei an vielen Kollegen mit Familie und längerer Anwartschaft, ein Apartment nur für sich allein zugewiesen bekommen. Das Apartment hat zwar nur ein Zimmer, kochen muß er auf dem Flur, Toilette und Dusche sind mehr oder minder eins, doch gemessen an den Lebensumständen der Massen ist er schon sehr privilegiert. Und das macht ihn doch ein wenig unglücklich. Denn Chen Cao ist nicht nur im Geiste des Großen Vorsitzenden Mao zu revolutionärer Bescheidenheit, sondern auch von seinem konfuzianisch gebildeten Vater zum Streben nach innerer Harmonie erzogen worden - und da werfen Neid und Mißgunst, wie unberechtig sie auch sein mögen, leichte Schatten auf's Gemüt.
Weitaus bedrohlicher für Chens Ausgeglichenheit ist jedoch der Fund, den zwei ältere Herren bei einem Bootsausflug auf einem ziemlich verschmutzten Zufluß des Huangpu gemacht haben. Ihr Kahn läuft auf einen Plastiksack auf, in dem zum Entsetzen aller die unbekleidete Leiche einer jungen schönen Frau verborgen ist.
Kaum mehr als Gerüchte
Alles, was ein guter Krimi braucht, ist auf den ersten Seiten von Qiu Xiaolongs Tod einer roten Heldin versammelt: eine unidentifizierte Leiche, ein sympathisch-hilfloser Kommissar und ein Umfeld voller Fallen, Intrigen und Verschwörungen. Einzigartig wird Der Tod einer roten Heldin durch den Umstand, dass hier ein mit allen literarischen Wassern gewaschener Autor über eine soziale Wirklichkeit schreibt, über die fast ausschließlich Gerüchte in Umlauf sind.
Qiu Xiaolong wurde 1953 in Shanghai geboren. Prägendes Erlebnis seiner Jugend war der Tag, als er seinen frisch an den Augen operierten Vater vier Stunden lang stützen mußte, weil der alte Herr sich stehend vor einem Tribunal der Roten Garden zu verantworten hatte. Später wurde Qiu als Lyriker und Übersetzer (u.a. von Chandler und T.S. Eliot), darin seinem Kommissar Chen gleich, Mitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes. Nach dem Tienanmen-Massaker kehrte er von einem USA-Aufenthalt nicht zurück und lehrt heute chinesische Literatur in St. Louis.
Zwei Impulse stehen seit jeher am Beginn der Kriminalliteratur: die Lösung von Rätseln nach dem Vorbild von Adgar Allan Poes Auguste Dupin und die Aufdeckung sozialer Wirklichkeit. So, wie Eugène Sue in seinen Geheimnissen von Paris die Leserschaft mit Einblicken in den kriminellen Untergrund der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft faszinierte, fesselt Qiu Xialong uns westliche Zuschauer mit seiner Version der Geheimnisse von Shanghai.
Aufklärungsarbeit in der VR
Es ist schier unmöglich, sich dem Sog von Chens Ermittlungen zu entziehen. Alle Vorgänge, die im westlichen Kriminalfilm nur noch angedeutet werden, weil sie völlig vertraut sind - die Überquerung einer Straße, eine Autofahrt, eine Amtsbesprechung - gewinnen unter zeitgenössischen chinesischen Bedingungen dramatisches Eigengewicht. Um auf eigene Faust ermitteln zu können, kann er keinen Dienstwagen benutzen und muß, da es andere Autos kaum gibt, sich von einem Freund dessen Privatwagen leihen. Die Verfolgung eines Verdächtigen hängt von Chens Privatbeziehungen zu einem LKW-Chauffeur ab, und letztlich muß er sogar - höchst widerwillig und gegen seinen Ehrenkodex - eine heikle Damenbeziehung in Pekinger Politbürokreise reaktivieren, um seine Haut retten und seine Sicht der Dinge durchsetzen zu können. Denn als ehemalige Vorzeigearbeiterin ist die Wasserleiche bereits ein Politikum, das endgültig nationale Dimensionen gewinnt, als ein "Prinzling" (parteichinesisch: ein Sohn mit hervorragendem revolutionärem Familienhintergrund) aus dem Kreis der Verdächtigen nicht mehr auszuschließen ist. Dank Entschlossenheit, Mut und Herzenshöflichkeit findet Chen Verbündete, seine literarische Bildung hilft ihm, Fallen rechtzeitig zu erkennen, und wir Mauergucker erfahren, wie in der VRChina unliebsame Fälle aus dem Weg geschafft werden: durch Revision der Parteilinie. Mit Qiu Xiaolongs Tod einer roten Heldin beginnt die moderne chinesische Krimiliteratur.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 17-03 16.4.03
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