Tobias Gohlis über Alfred Andersch: Gesammelte Werke

 

Alfred Andersch: Gesammelte Werke; hrsg. u. kommentiert von Dieter Lamping u. Axel Dunker, Diogenes Verlag, Zürich 2005, zehn Bände in Kassette

 

 

Der Gentleman der deutschen Nachkriegsliteratur

Zum 25. Todestag von Alfred Andersch erscheint sein Werk erstmals in einer kommentierten Ausgabe

Im Jahre 1953 landeten Alfred Andersch, seine Frau Gisela und Peter, ihr Sohn aus erster Ehe, bei einer Lapplandwanderung in der Urwildnis des Rapa-Tals. Statt umzukehren, als es noch Zeit war, waren sie immer weiter ins Unwegsame vorgedrungen. Als sie fast keinen Proviant mehr hatten, ohne Aussicht auf rechtzeitiges Herauskommen, völlig erschöpft, beschreibt Andersch „eine Zeitspanne des vollkommenen Glücks“. Ken – Andersch legte sich für seine Reiseberichte und autobiographischen Texte ein alter ego um – zündete seine Pfeife an, vertrieb mit deren Rauch die Mücken und begann, in Ich-Form die Geschichte des Flusses Rapa zu erzählen, an dessen Ufer die drei Wanderer vielleicht für immer festsaßen. In vollständiger Einsamkeit wird der Fluss geboren, dort, wohin sich nicht einmal das Rentier wagt. Er wächst, wird wärmer, verzweigt sich, ringt mit den Widerständen von Bergen und Wäldern, nährt Rentiere und Fische, bis er sich in „zahllosen silbernen Strähnen auflöst“ und nur noch „ein Spiegel des Himmels ist.“

Vor 25 Jahren, am 21. Februar 1980, ist Alfred Andersch gestorben, und sein Verlag ehrt den Romancier, Lyriker, Essayisten, Reiseschriftsteller, Literaturkritiker, Übersetzer und Hörspielautor mit einer kommentierten Ausgabe seiner Werke in zehn Bänden.

Die Erzählung Das Rapa-Tal ist ein vielfacher Spiegel von Autor und Biographie. Wie alle Reiseerzählungen geht sie gut aus: Denn nur Überlebende können berichten. Der 1914 geborene Andersch war ein glücklicher Überlebender. Als Jugendlicher war er Organisator des Kommunistischen Jugendverbandes gewesen und zwei Mal im KZ inhaftiert. 1944, als im vorletzten Aufgebot rekrutierter Soldat, entschied er sich in einer anderen Wildnis, aus der Hitlerarmee zu desertieren. In Die Kirschen der Freiheit hat er 1952 darüber berichtet. Das Buch machte ihn auf einen Schlag bekannt, „und zwar einfach wegen des Themas der Desertion. Das war damals bereits eine so unverschämte Sache, daß ganz Deutschland darüber diskutiert hat.“ Für Andersch wurde diese Entscheidung zum Dreh- und Angelpunkt seines Seins. Für ihn bedeutete Freisein, jenen Augenblick zu erkennen und zu nutzen, in dem man die Wahl hat: zu desertieren - oder konfrontiert mit der Todesdrohung sich die Biografie eines Flusses auszumalen. Seine Freiheit fand Andersch in der Tat und in der Kunst.

Es hat beinahe etwas Pathetisches, in einer Zeit, in der weder persönliche Taten noch entschiedene Kunst einen Anlass zu finden scheinen, zur erneuten Lektüre von Andersch zu animieren. In den Romanen, den drei Bände umfassenden zahllosen Essays zu Literatur, Kunst, Philosophie, Politik seiner Gegenwart ist eine Schärfe des Blicks und der Diktion versammelt, die geschult wurde an den moralischen und ästhetischen Problemen seiner Zeit: Krieg und Nazismus, demokratisches und künstlerisches Selbstverständnis in der Adenauer-Ära. Das Spannende und Bewegende an Andersch ist, dass er das Moralische und das Ästhetische überhaupt nicht von einander trennen wollte. Dabei sprach er sich, in den 50er Jahren als Leiter diverser literarischer Rundfunksendungen und der Zeitschrift Texte und Zeichen einer der Einflussreichsten Männer im Literaturbetrieb, nur für eins aus, für literarische Qualität. Das hieß, zumal in den intellektuellen Frontstellungen des Kalten Krieges, für Brecht und Seghers, aber auch für Arno Schmidt und Ernst Jünger. Ohne seine Förderung Enzensbergers und Walsers, ohne seinen Import der französischen und amerikanischen Moderne wären die ersten Gehversuche der bundesrepublikanischen Literatur provinzieller und ästhetisch unbedarfter ausgefallen. Völlig zu Recht zitiert der Verlag Fritz J., Raddatz: „Es ist geradezu eine Ehrenpflicht, diesen Mann – seine Courage, seine Emphase, seine Tristesse – nicht zu vergessen.“

Die Suche nach den Kirschen der Freiheit, die er erstmals in der umbrischen Macchia pflückte, nachdem er seine Waffen weggeworfen hatte, hat den Autor Andersch nicht mehr losgelassen. Bücher wie dieses, oder auch Sansibar oder der letzte Grund gehören in die Schule, zumal heute ganze Jahrgänge von Haupt- und Realschülern, wie kürzlich zu hören war, keinen Unterricht über den Nationalsozialismus erhalten.

Andersch schrieb entschieden, aber offen. Seine Leser sollten in jedem Augenblick die Freiheit haben, "aufzustehen und fortzugehen." Figuren, Handlung, Struktur seiner Romane sind konzipiert als Modelle von Handeln, Arno Schmidts Formel vom Gedankenspiel hat ebenso wie Wittgensteins Sprachspiel Anderschs Ästhetik beeinflusst.

keine ahnung
was das für leute
sind

wüßte ich's
hätt ich sie nicht
beschrieben

reflektiert er im Gedicht Gnothi seauton das Personal von Winterspelt. Und fährt fort: "weiß ja nichteinmal/ wer ich bin". Nicht frei von Koketterie ist allerdings der Anschluss: "und will's auch gar nicht/ so genau wissen".

Denn das ist wohl doch der innerste Impuls seines Werkes gewesen: sich selbst zu erkunden, in seinen Handlungen, Positionen, Entscheidungen. Auch dann, wenn er, wie in Efraim, dem Roman über das Leiden eines jüdischen Emigranten am Deutschland der sechziger Jahre, scheinbar nicht von sich spricht. Doch gegenüber dem großen Gewollten dieser Romane (Winterspelt umfasst ohne Kommentar 620 Seiten) bestechen die autobiographischen Texte durch reflektierte Authentizität, besonders auch das Fragment Der Seesack aus den letzten Jahren, in denen Andersch seine Arbeiten einer fortschreitenden Nierenerkrankung abringen musste. Unübertroffen sind die Reisetexte, in denen er seine größte sprachliche Stärke ausspielt. Wenn der Sensualist das „Eisenlicht“ einer nordischen Nacht evoziert, ist jene Kraft der Sprache am Werk, die Andersch zäh verfolgte: die der Beschreibung dessen was ist.

 

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die Welt Sa, den 19.2.2005 unter dem Titel „Die frischen Kirschen der Freiheit“