Tobias Gohlis über Jeffery Deaver: Der Täuscher und Charles den Tex: Die Zelle

 



Virtuelle Räume machen keine Angst

Schon morgen haben sie dich erfasst

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Jeffery Deaver:
Der Täuscher
Aus dem Englischen von Thomas Haufschild

Charles den Tex:
Die Zelle
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer

 

Datenblutsauger

Tobias Gohlis über Thriller, die teuflisch gut die reale Bedrohung durch Internetkriminalität an die Wand malen

Nach der Lektüre von Jeffery Deaver: Der Täuscher habe ich meine Kreditkartennummer nicht mehr im Internet angegeben. Danach habe ich von Charles den Tex Die Zelle gelesen und überlegt, ob ich den E-Mail-Verkehr einstellen soll.“

Virtuelle Räume machen keine Angst
Vermutlich ist es nichts weiter als ein Zufall. Zeitgleich erscheinen zwei Thriller aus verschiedenen Ländern, in denen alle Internet-Albträume wahr werden, die man immer schon verdrängt hat. Beide Autoren haben ein Problem eindrucksvoll gelöst, das die Lektüre von cybercrime-novels extrem nervig machen kann: Die virtuelle Sphäre ist potenziell unbegrenzt und wird deshalb nicht als bedrohlich, sondern vom User als Spielraum wahrgenommen. Deshalb muss ein guter Spannungsautor treffende Äquivalente in der Wirklichkeit (er-) finden, die geeignet sind, dem Leser Angst zu machen. Der Niederländer Charles den Tex, der schon im Vorgängerroman Die Macht des Mr. Miller ein weltumspannendes Computerverbrechen kompetent entworfen hat, schleudert seinen Helden Michael Bellicher buchstäblich aus einer Beinahe-Karambolage von der Autobahn in das Niemandsland aus verglasten Gewächshäusern, das sich in den südlichen Niederlanden erstreckt. Monster heißt sprechend der Hauptort dieses von halbirren Sonderlingen bewohnten Irrgartens. Hier erfährt Yuppie Bellicher, Berater von Regierungen und internationalen Unternehmen, dass er mit seinem BMW einen Menschen überfahren haben soll. Mit einem BMW, von er weiß, dass er ihn nie besessen hat. Was er nicht beweisen kann. Denn man hat ihm seine Identität gestohlen, und ein Unbekannter fährt als Michael Bellicher BMW und hat vermutlich auch den Leiter einer Korruptionsuntersuchung getötet. An der Seite von Ich-Erzähler Bellicher folgt der Leser jeder Amplitude seiner Verunsicherung in die Panik des Ich-Verlusts.

Schon morgen haben sie dich erfasst
Diesen Tort tut Spannungsspezialist Jeffery Deaver seinen Lesern nicht an. Nach sieben Thrillern um den querschnittgelähmten Spurenanalytiker Lincoln Rhyme und Amelia Sachs, seine Agentin am Tatort, rechnet der Leser fest mit dem Sieg der beiden Superdetektive. Spannung erzeugt Deaver, immer wieder prächtig verspielt und einfallsreich aus den raffinierten twists seiner Plots – und diesmal auch aus der furchteinflößenden Welt kommerzieller Informationsherrschaft. Als Rhyme eher en passant die Hintergründe der Mordanklage gegen seinen Cousin erforscht, stößt er auf einen Mörder, der mit Hilfe von manipulierten Indizien den Ermittlungsbehörden Unschuldige als Verdächtige serviert. Während sie als Mörder verurteilt werden, tötet und raubt er munter unerkannt weiter. Hier liegt der finsterste Höllenkreis in Manhattan. Es ist der Bunker, in dem der Moloch „SSD“ Datenblut aus allen im Netz schwirrendem IDs, Kaufvorgängen, Ebay-Auktionen, Suchabfragen, Mails und Internettelefonaten, aus Facebook, Studi-VZ, Xing und anderen Netzwerken schlürft. „SSD“ ist auf dem Weg zur Supermacht. Diese Kolumne ist die letzte Mail, die ich zitternd verschicke.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 18 vom 23.4.09