Tobias Gohlis über James Ellroy: Blut will fließen




Kultgestalt zwischen Thomas Pynchon und
Jeff Koons

Idol und Spanner

USA-Underworld

Blut will fließen

Eye witness Don Crutchfield

Enigmatische Gegengeschichte?

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James Ellroy:
Blut will fließen

Aus dem Amerikanischen von Stephen Tree

 

 

 

 

 

Der Beethoven der Konspirationsliteratur?

James Ellroy schließt seine USA-Underworld-Trilogy über die Sechziger Jahre mit einem Romanmonster ab.

Der Höllenhund ist wieder zu Hause in Los Angeles, das Spektakel vorüber. Im Januar ist James Ellroy, der „größte Kriminalschriftsteller aller Zeiten“ durch deutsche Literaturhäuser gereist. Und hat verkündet: “Ich wurde vom Allmächtigen Gott selbst auserkoren, um die besten Bücher über Gewalt und Intrigen zu schreiben, die je zu Papier gebracht wurden. Was Beethoven für die Musik ist, bin ich für die Literatur der Gewalt und Intrigen.” Auch wer nicht wollte, konnte erfahren, dass der Mann 61 ist und immer noch scharf auf Frauen. Früher war er ein Spanner, der durch Villenfenster glotzte und an geklauten Höschen schnüffelte.

Kultgestalt zwischen Thomas Pynchon und Jeff Koons
Unersättlich hinter den Frauen her ist er, weil seine Mutter ermordet wurde, als er zehn Jahre alt war. „Ich bin ein Exhibitionist“, erklärte er seinem englischen Kollegen David Peace. Kein Wunder, dass Begriffe wie Obsession, Genie und Wahnsinn die Ellroy-Rezeption umschwirren wie die Schmeißfliegen seine zahllosen Leichen. Zieht man den Medienwirbel ab, den der Ex-Spanner und Ex-Junkie aus Los Angeles um sich verbreitet, bleibt ein gestörter Mensch übrig, der am liebsten im Dunkeln liegt und döst. Und ein faszinierender Autor. Ellroy ist ein amerikanisches Phänomen, eine Kultgestalt zwischen Thomas Pynchon und Jeff Koons.

Idol und Spanner
Es gibt kaum einen nennenswerten Kriminalschriftsteller der jüngeren Generation, der nicht beeindruckt und beeinflusst ist von Ellroy. Wie keiner vor ihm hat er die realistische Cop-Novel in kalt kalkulierte Delirien einsamer, besessener Männer verwandelt. Nicht mehr Recht und Gesetz, Polizist und Verbrecher bilden den Rahmen der Handlung. Im L.A.-Quartett (am berühmtesten, weil verfilmt, daraus der Roman L.A. Confidential) hat Ellroy das Los Angeles der vierziger und fünfziger Jahre in eine Stadt der Teufel umgeschrieben, in der es ausschließlich Täter und Opfer gibt, hat ein Pandämonium reiner unstillbarer Begierden nach Macht, Geld und Liebe schwärzest ausgemalt. Ellroys Polizisten sind keine Ordnungskräfte, sondern rastlose, besessene Männer, beherrscht von Idiosynkrasien über Liebe und Heldentum, sie sind Mörder und Frauenbeschützer, edle Ritter und üble Heuchler in einem. Die ihnen übertragene Macht zur Strafverfolgung ist ein Instrument zur vorübergehenden Bedürfnisbefriedigung, ein Rauschmittel wie Gerüchte, Drogen, Massenmedien, Casinos oder Filmstudios. Die Spannerperspektive ist integraler Bestandteil der Ellroyschen Welt-Wahrnehmung. Akribisch führt der Autor vor, wie die kalifornische Yellow-Press als Einschüchterungs- und Erpressungsmittel funktioniert und delektiert sich zugleich daran, die gruseligen Perversionen und Abartigkeiten realer Persönlichkeiten zu denunzieren. In seinen Kriminalromanen aus Los Angeles eröffnet Ellroy den Schlüssellochblick in die Gedärme der Stadt – mit dem Unterschied nur, dass Gedärme moralisch neutral und biologisch nützlich sind, das Treiben von Ellroys Höllenbewohnern jedoch nicht.

USA-Underworld
Diese am vergleichsweise kleinen Los Angeles eingeübte Schwarzsicht hat Ellroy in seiner USA-Underworld-Trilogy auf das Amerika der sechziger Jahre übertragen. Angeregt von Don DeLillos Roman Libra über die Ermordung J.F. Kennedys rollt er die amerikanische Geschichte aus der Sicht derer auf, die sie mit ihren Händen machen: der Killer und Intriganten aus der zweiten und dritten Reihe. Mal richten diese Mobster, Ex-Polizisten oder FBI-Agenten auf eigene Rechung eine Heroin-Pipeline von Vietnam nach Miami ein, mal planen sie die Ermordung des amerikanischen Präsidenten. Sie sind Folterer, Mörder, Freelancer der Konspiration, Söldner der Macht, umgetrieben von persönlichen Loyalitäten und politischen Wahnphantasien. Ihre Untaten verhüllt Ellroy mit einem obskurantischen Stacheldrahtverhau aus Dokumenten und Dialogen, durch das Stakkato-Sätze wie Maschinengewehrfeuer knattern. Dieses Delirium aus Hauptsätzen, Dialogfragmenten, Slang und F-Wörtern ist Ellroys Markenzeichen: „Extreme Writing.“ Unterfüttert sind die zahlreichen, ineinander verzwirbelten Verbrechensplots mit einem Wust von echten und echt wirkenden Dokumenten. Telefonmitschnitte, illegale Abhörprotokolle, Geheimdienstdossiers, Zeitungsausschnitte bilden eine martialische Atmosphäre anscheinend realistischer Fakten, in der sich zig reale Figuren der Zeitgeschichte bewegen: vom kleinen kalifornischen Privatdetektiv Fred Otash bis zu Justizminister Bobby Kennedy. Der erste Band der Trilogie Ein amerikanischer Thriller dämonisiert die Zeit bis zur Ermordung J.F. Kennedys, der zweite Band Ein amerikanischer Albtraum die Manöver zur Deckung der wahren Kennedymörder sowie die Attentate auf Martin Luther King und Bobby Kennedy. Natürlich waren die Täter nicht Lee Harvey Oswald, Sirhan Sirhan und James Earl Ray, sondern die Männer, deren Namen Ellroy im von ihm produzierten Akten- und Textwust aufscheinen lässt. Der Leser, das ist Ellroys Kalkül, muss die wahren Vorgänge aus dem von ihm künstlich aufgetürmten Aktenberg herauspulen wie ein Investigator.

Blut will fließen
Der dritte, jüngst erschienene Band Blut will fließen beginnt mit Nixons Präsidentschaftskampagne und endet 1972 mit dem Tod des langjährigen FBI-Direktors J.E. Hoover. Wer bis Seite 776 vorgedrungen ist, wird erstaunt bemerken, dass auch der Herzinfarkt, der den damals mächtigsten Mann der USA dahinraffte, ferngesteuert war. Darauf läuft alles hinaus: auf eine möglichst tief in der Realität verankerte Fiktionalisierung oder krasser: möglichst glaubwürdige Paranoiaversion der amerikanischen Geschichte.

Eye witness Don Crutchfield
Für den letzten Band der Trilogie unternimmt Ellroy zusätzliche Anstrengungen, um Fiktion und Fakten zu verwirren. Sein stärkster Trick ist die Präsentation eines lebenden Erzählers, der nicht er selbst ist. Sondern ein in Los Angeles praktizierender Promi-Detektiv namens Don Crutchfield, dem Ellroy das Recht auf die Verwendung seines Namens abgekauft haben will. In den USA treten Ellroy und Crutchfield bei Lesungen Arm in Arm auf. Und Crutchfield versichert, er habe sich vertraglich verpflichtet, niemals zu verraten, was wahr und was erfunden ist an dem, was Ellroy ihm als Ich-Erzähler und als Figur angedichtet hat. (Man fragt sich, ob er sich des Risikos einer Mordanklage in bis zu 30 Fällen bewusst ist, die ein Staatsanwalt nach der Lektüre erheben könnte.) Der leibhaftige Crutchfield ist nach Dokumenten und Akten gewissermaßen Ellroys höchste Beglaubigung für den Wahrheitsgehalt seiner Version amerikanischer Geschichte.

Enigmatische Gegengeschichte?
Die beginnt in Blut will fließen aber merkwürdig konventionell als Kriminalgeschichte. Ein Geldtransporter wird überfallen, fast alle Täter gehen dabei drauf. Die Smaragde aus der verschwundenen Beute rieseln in den folgenden acht Jahren durch das Geschehen, und am Ende wird der Überfall ordentlich aufgeklärt. Dazwischen staatlichen Verschwörungen gegen afroamerikanische Organisationen, Versuche des Mobs und des Milliardärs Howard Hughes, Las Vegas und die Dominikanische Republik unter Kontrolle zu bringen, Voodoo aus Haiti, Mordüberfälle auf Kubaner. Hauptakteure sind wieder drei Männer aus der zweiten Reihe. Sie werden aber – und das ist ganz neu in Ellroys Werk – von ihren paranoiden antikommunistischen Wahnvorstellungen geheilt: alle drei verfallen zwei linksradikalen Madonnen in anbetender Verehrung. Wer will, kann das in viele einzelne Subplots diversifizierte Material aus Gerüchten, Halb- und Vollwahrheiten genüsslich als Schlüssellochpanorama der bizarren, grausamen und ridikülen Figuren und Geschehnisse der jüngeren amerikanischen Geschichte lesen, als grandioses und monströses Verbrechens- und Geschichtswerk, das der Kriminalliteratur neue Dimensionen öffnet. Zugleich sieht man in Blut will fließen einen großartigen Autor bei dem Versuch scheitern, alles unter einen Hut zu bringen: eine abgeschlossene Kriminalerzählung und die Schaffung einer schlüssigen Untergrund- und Gegenfiktion zur amerikanischen Geschichte. Es scheint nämlich, als habe Ellroy seiner in den beiden ersten Bänden erprobten Mixtur aus Fakten, Erfindung und Fälschung nicht mehr getraut. Der Rückgriff auf den schlichten Rahmen einer Kriminalhandlung hält den Roman besser zusammen, die ideologische Wandlung der deklariert fiktiven Protagonisten macht diese als Figuren glaubwürdiger. Aber diese Rückkehr zu Mustern traditionellen Erzählens desavouieren Ellroys Ambition einer geschlossenen enigmatischen Gegengeschichtsschreibung, die so schwer aufzudröseln und so avanciert ist wie Ludwig van’s Große Fuge. Er ist eben doch nicht Beethoven.

Veröffentlicht in DIE ZEIT Nr. 15 vom 7.4.2010

Siehe auch: Tobias Gohlis über „Ein amerikanischer Thriller“ und „Ein amerikanischer Albtraum“