Tobias Gohlis über Monika Geier: Neapel sehen




Immer diese Anfänge

Und dann liest man und liest …

Angeborene Bösartigkeit

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Monika Geier:
Wie könnt ihr schlafen

Neapel sehen


 

 

 

Geiers Pfälzer Zwielichtzonen

Lektüreempfehlungen? Ich rate grundsätzlich davon ab. Belasten nur die Freundschaft. Da sitzt man beim Wein, plaudert über dieses und jenes. Und dann fällt so ein Satz in den Nachmittag: "Die musst du mal lesen. Schreibt wie Agatha Christie." Mein Gegenüber, bis dahin eine angenehm unstrapaziöse Gesprächspartnerin, sah das blanke Entsetzen in meinen Augen und legte erst richtig los: "Wie eine deutsche Agatha Christie."
Vor meinem inneren Auge tauchten englische Landsitze auf, darin die obligatorische Wochenendgesellschaft mit zehn Gästen, die von einem unsichtbaren Mörder gemeuchelt werden. Knarrende Türen, knirschende Hirnzellen.

Immer diese Anfänge
Wie könnt ihr schlafen - schon im Titel müssen deutsche Agathas Moralin verspritzen. Und wie sie anfängt: "Sport hätte vielleicht wirklich geholfen. Lachhaft, da hatte er gut zwanzig Jahre gebraucht, um in Betracht zu ziehen, dass seine blöden Sportlehrer Recht gehabt haben könnten." "Um in Betracht zu ziehen", "Recht gehabt haben könnten" - wieso formulieren Autoren ihre ersten Sätze nicht zuletzt, wenn sie sich warm geschrieben haben?
Darüber muss man hinweg. Und dann liest man und liest man und liest. Monika Geier schreibt nicht wie Agatha Christie, zum Glück. Sie schreibt eigentlich überhaupt nicht wie irgendjemand aus dem 20. Jahrhundert. Sie schreibt wie - aber nein, das verschweige ich jetzt. Keine Vergleiche mehr.

Und dann liest man und liest …
Denn Monika Geier ist auf dem besten Wege zu einer ganz großen Unterhaltungs-schriftstellerin. Wissen Sie, was das ist, eine große Unterhaltungsschriftstellerin? Bis ich Monika Geier las, wusste ich das auch nicht. Jetzt beginne ich, es zu ahnen. Nehmen wir ihren ersten Krimi, für den sie gleich mit dem Marlowe ausgezeichnet wurde: Wie könnt ihr schlafen. In Kreimersheim, einem Kaff im Pfälzerwald, hat Geier alles zusammengetragen, was man für einen Lore-Roman braucht. Das geheimnisumwitterte Herrenhaus der Sägewerksbesitzerfamilie, die seit Jahrzehnten ein kapitalistisches Jus primae noctis ausüben. Die jobbende Studentin, die was mit dem Erben anfängt, der bigotte Lehrer, die hysterische Apothekerin, die Architektin mit Sportwagen und Vergangenheit. Doch erstaunlicherweise gewinnen diese auf Stereotype aus Pappmaché angelegten Figuren eine mitreißende Lebendigkeit, so dass man zunehmend mit Spannung auf die nächsten Auftritte auch der abseitigsten Nebenfiguren wartet. Es ist, als lösten sich Ausschneidepuppen aus ihrer zweidimensionalen Existenz und begännen Shakespeare zu spielen, ohne dabei je ihre Herkunft aus der Kinderfantasie zu verleugnen. Und noch erstaunlicher: Selbst wenn man sich einige Wochen nach der Lektüre nicht mehr an alle Einzelheiten des Falles erinnert, bleiben doch die dumpfig-waldige Atmosphäre, die atembeklemmende Enge, in der jedes Verbrechen, ob geringfügig oder monströs, sich zu ungehemmt zerstörerischer Energie entfaltet, in beinahe lähmender, jedenfalls eindrücklicher Erinnerung.

Angeborene Bösartigkeit
Ganz anders, heller, in einer hügligen, landwirtschaftlich intensiver genutzten Gegend der Pfalz mit weiten Feldern angesiedelt, entspinnt sich Neapel sehen. Kommissarin Bettina Boll, die schon im ersten Fall mit fliegenden Nerven und untrüglichem Verstand die verfitzten Fäden entflochten hatte, steht vor der Katastrophe. Ihre todsterbenskrebskranke Schwester hat sich samt unmündigen Kindern und ohne eine Adresse zu hinterlassen, nach Italien verdünnisiert. Da bringt Boll, die sich zu allem Überfluss auch noch gegen das "Böllchen" ihres senilen Chefs wehren muss, kaum die Kraft auf, in der Sommerhitze dem Tod einer Lehrerin nachzugehen, der eigentlich auch als Kletterunfall abgehakt werden könnte. Die allzu gute Tote hatte die Sozialhilfeempfänger einer Containersiedlung, eine abgebrannte alleinerziehende Mutter und andere reichlich von der Normalität abgewichene Charaktere mit Hilfsbereitschaft überschüttet. Ein schillerndes Mordmotiv taucht gleißend in der Sommerhitze auf: Hat jemand sich gegen die obsessive Fürsorge mit Gewalt gewehrt?
Monika Geier verfügt über die angeborene Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über die wunderbare Gabe, ihre Figuren wie von allein durch die Erzählung laufen zu lassen, über Witz und über die Raffinesse zum wirklich subtilen Plot. Nur eins muss sie noch packen: den guten ersten Satz.


Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 39/01

Siehe auch: Tobias Gohlis über Monika Geier: Die Herzen aller Mädchen

Siehe auch: Tobias Gohlis über Monika Geier: Stein sei ewig