Tobias Gohlis über Sara Gran: Die Stadt der Toten

 


Sara Gran:
Die Stadt der Toten

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné

 

Détection!

Mit Claire de Witt schlägt Sara Gran ein neues Kapitel der Kriminalliteratur auf

Mit Wucht und Grandezza ist sie plötzlich wieder da. Ein wildes, großartiges Buch genügt, und aus dem Halbdämmer obsolet gewordener Erzählmuster tritt die Figur des Detektivs in all ihrer bezaubernden Rätselhaftigkeit hervor. Der Amerikanerin Sara Gran, 1971 in Brooklyn geboren, in Kalifornien lebend, ist dieser Coup gelungen. Tusch und Vorhang auf für Claire de Witt, die "beste Privatdetektivin der Welt".
Die Stadt der Toten ist Sara Grans erster Band mit der Über-Ermittlerin. Lassen Sie sich von abgerundeten Ecken und anderen Weibchen-Signalen nicht täuschen, mit denen der Droemer-Verlag Grans masterpiece auf Kundinnenfang schickt. "Ein kühn gefeilter Roman, der jedem die Lesehand abbeißen wird, der ihn ›Frauenkrimi‹ nennt," konterte Grans Kollegin Nina George im Focus.
The City of the Dead ist New Orleans, 2007, zwei Jahre nach dem Wüten von Hurrikan Katrina, eine verwüstete Stadt, von der ignorant fahrlässigen Bush-Adminstration Immobilienhaien und marodierenden Gangsterbanden überlassen. Für Claire war es schon zuvor eine Stadt der Toten. Hier wurde ihre Lehrerin Constance Darling, Geliebte und Komplizin des Meisterdetektivs Jacques Silette, von Jugendlichen bei einem Überfall erschossen. Jetzt lautet ihr Auftrag, das Verschwinden des Staatsanwalts Vic Williams aufzuklären. Vic war einer der wenigen Staatsanwälte, die versuchten, etwas gegen Korruption und Bandengewalt zu unternehmen, ein guter Mensch, wie alle sagen - und ein böser auch, wie Claire, allein der Wahrheit verpflichtet, herausfindet.
Claire de Witt ist keine Mama Ramotswe oder Miss Marple, Lisbeth Salander ist im Vergleich zu ihr flach. Als Identifikationsfigur oder gar Emanzipationsmodell ist sie völlig ungeeignet: Claire vereint alle guten und alle schlechten Eigenschaften aller Detektivinnen und Detektive der Welt in sich. Mit dem I Ging und Halluzinationen, Alk und Drogen, messerscharfem Verstand und CSI-Kompetenz zieht sie los, vor allem aber mit Détection, der mythisch-allerklärenden Bibel des Meisters Jacques Silette. Das Kompendium aller Weisheiten entdecken nur die, die als Detektive geboren sind, und kann nur von diesen intuitiv verstanden werden.
"Geheimnisse existieren unabhängig von uns," schreibt Silette. Und, paradox im selben Abschnitt: "Es geht nur um die Fakten, und darum, was sie uns sagen." Das ist das Konzept von Sara Grans Detektion. Alles, und alles neu zu erzählen: das Faktische und das Un-Faktische. Kühn stellt sie Realitäts- und Erfahrungsebenen gegeneinander: Traum und philosophische Reflexion, Wachheit und Abschlaffung, Heute und Gestern. Ein grüner Papagei und ein obdachloser Ex-Detektiv – die Wahrheit ist überall und bei jedem zu finden und entzieht sich doch ständig. Berauscht und fasziniert von den Zen-Rätseln, die Gran aufgibt, vergisst man leicht ihre andere Seite: genaue, unsentimentale Schilderungen vom Widerstand im Chaos der vom Sturm ramponierten und der Administration ruinierten Stadt, vom Leben also in der Stadt der Toten. In der es – woher auch sollte es kommen? – kein Happy End gibt. Sondern bestenfalls eine neue Erzählung.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 28 vom 5.7.2012