Indolenz, in Schweiß
gebadet
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Frode Grytten: Die Raubmöwen besorgen
den Rest
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
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In Odda sind die Lebenden schon tot
Was hält diesen Mann am Leben? Denn lebendig ist Robert
Bell schon lange nicht mehr. Vermüllt, zugedreckt, mit Leichen und
Schrott gefüllt wie der Sørfjord vor seiner sterbenden Heimatstadt
Odda tröpfelt sein Lebensrinnsal vor sich hin. Das einzige, was ihn
hin und wieder noch mit einem Fünkchen Hoffnung beseelt, ist eines
dieser heimlichen, verhuschten, irrwitzigen Treffen mit Irene, der einzigen
Frau, die je für ihn bestimmt war und ihm niemals gehören wird.
Als sie vor einigen Jahren bei einem Gartenfest mit ihm flirtete und fragte,
ob er „immer so lieb“ sei, wurde ihm klar: „Ich war
ein Mann, dem man nicht trauen konnte.“ Wirklich nicht: Irene ist
nämlich die Frau seines Bruders, und sie betrügen sich alle
drei. Und jetzt, als der Sohn des Eismanns Pedersen tot aus dem Fluss
gezogen wird und Bell eigentlich einmal so funktionieren soll, wie es
die Chefin vom Dienst in Bergen von dem Lokalreporter vor Ort erwartet,
versagt er ganz und gar.
Der Norweger Frode Grytten, selber lange als Journalist im Geschäft,
macht etwas, was wir eher von amerikanischen Autoren kennen. Er porträtiert
seine kleine Stadt Odda mit Hilfe verschiedener literarischer Genres.
Zuletzt hat das bravourös Michael Cunningham in Helle Tage gemacht:
Darin erzählt dreifach von New York in den Mustern des historischen
Romans, des Thrillers und der Science Fiction; auch Jerome
Charyns hyperbolische Serie um den jüdischen Mafia-Cop Isaac
Sidel ist nur eine seiner erzählerischen Antworten auf die durchgeknallte
Realität der Metropole. 25 Geschichten um die 25 Wohnungen einer
Arbeitersiedlung hat Frode Grytten in seinem mehrfach preisgekrönten
„Kollektivroman“ Was im Leben zählt von 1999 um
Odda gewoben. Zeugten damals noch Verschrobenheit und Skurrilität
der Figuren von einer gewissen Rest-Lebendigkeit, liegt jetzt, im Kriminalroman,
die ehemalige Tourismusattraktion, die Ex-Industriestadt Odda in der drückenden
Hitze des Sommers 2002 wie unter einer klebrigen Masse aus Dummheit, Verwesung
und Ressentiment erstickt zwischen den Backen der Hardangerberge.
Schweißgetränkte Dumpfheit regiert. Nicht einmal die Fernsehübertragungen
der Fußballweltmeisterschaftspiele lassen den Erregungspegel nennenswert
steigen. Der einzige, der in diesem Kaff von 8000 Seelenlosen noch etwas
will, ist ein kleiner Asylant ohne Namen. Bell nennt ihn „Ronaldo“,
weil er ein Trikot mit dem Namen des Stars trägt. Tagsüber hält
der kleine Waisenjunge auf der Schwimmbrücke am Fluss Wache, um die
Küken einer Entenmutter zu schützen, doch jeden Morgen haben
die fetten Möwen wieder eins geraubt. Bell soll ihn nachts ablösen,
aber auch dazu hat er keine Kraft.
Indolenz, in Schweiß gebadet
In Odda ist der Mord des Jahres geschehen. Pedersens Junge gehörte
zu einer Truppe von Nordheim-Rassisten, und irgendjemand will die Serben
aus der Asylantensiedlung dabei beobachtet haben, wie sie ihn seinen Opel
in den Fluss gedrängt haben. Jetzt steckt der Opel wie ein Vostellscher
Cadillac die Schnauze ins flache Wasser, und die Yellowpress schwebt im
Helikopter ein. Bell wird verdonnert, für einen aus der Zentrale
angerauschten Starreporter den Fremdenführer und Laufburschen zu
spielen.
Alle Elemente der klassischen Krimikonstellation „Ehrlicher Mann
vor Ort klärt Fall vor Ignoranten und Besserwissern“ sind gegeben.
Doch mit einer müden Handbewegung wischt Grytten sie beiseite, und
das macht die Stärke seines Romans aus. Bell rührt sich nicht,
er ist die Indolenz in Schweiß gebadet. Bell hat nur Irene im Kopf,
wie er sie noch einmal und noch ein letztes Mal rumkriegen kann, bevor
ihr unmögliches Verhältnis zu Ende geht. Als sie aus Odda verschwindet,
möglicherweise das Opfer des eifersüchtig mit einem Gewehr fuchtelnden
Bruders, sucht Bell ein bisschen nach ihr herum. Nicht einmal dazu ist
er Manns genug. Später wird sein Bruder es auf den Punkt bringen:
„Ich brauche dich nicht zu erschießen. Du bist schon tot.“
Bell, dieser Leiche auf Abruf, ist fast alles gleichgültig. Dass
er sich doch noch um den Asylantenjungen kümmert, dass er doch noch
den Hinweisen nachgeht, die ihm zugespielt werden, ist einem bedingten
Reflex, einer noch nicht völlig ruinierten Konditionierung zum Guten
geschuldet. Grytten variiert die vertraute Figur des zynisch-hoffnungslosen
Detektivs, um in seiner Sicht ein Odda der toten Seelen zu spiegeln. „Bell“
– der Name erinnert höhnisch an Schönheit und den Erfinder
des Telefons - ist ein Totalversager, der es nicht einmal als Verweigerer
zu etwas bringt. Nicht einmal gegen die Raubritter der Globalisierung,
die irgendwie hinter dem Ganzen stecken, kommt er in seiner Laschheit
an. Nachdem Bell ein paar Hintergründe herausgefunden und aufgeschrieben
hat, sinkt sein Finger auf die „Delete“-Taste.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE
ZEIT Nr. 19 4.5.06
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