Tobias Gohlis über Colin Harrison: Havana Room


Ein Glas Milch zuviel

Ein New Yorker Jedermann

Eine tiefgefrorene Leiche

Bewiesene Vätersolidarität

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Colin Harrison: Havana
Room.
Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb

 

 

Liebe Deine Familie

Mit Colin Harrisons Thriller Havana Room kehren alte Werte wieder

Es fällt einem schon schwer, mit Bill Wyeth kein Mitleid zu empfinden. Der Mann besaß alles, was ein guter Amerikaner braucht – und sogar ein bisschen mehr. Und das hat er in einer einzigen Nacht verloren. Bill erzählt uns seine Geschichte selbst, er will, dass wir nicht nur seinen Sturz nachvollziehen können, sondern auch die Höhe, aus der er gefallen ist. Deshalb rechnet der Immobilien- und Geldanlagespezialist penibel vor, was sein gehobener Lebensstil in Manhattan gekostet hat. Dem Kindermädchen hat er 48.000 Dollar gezahlt, „das sind 100.000 vor Steuern.“ Die Hypothek für das Apartment am Central Park belief sich auf 8790, die Wohnkosten betrugen 3945 Dollar im Monat, die Garage 585 und die private Krankenversicherung 2165 Dollar. All das kann Bill sich nicht mehr leisten, weil er ein Kind getötet hat.

Ein Glas Milch zuviel
Was ihm passiert ist, könnte jedem geschehen. Eines Nachts kommt er von einer Geschäftsreise nach Hause und gibt einem der Jungen, die nach der Geburtstagsfete seines Sohnes bei ihm übernachten, ein Glas Milch. Von dem Thai-Essen, das er sich zuvor noch hatte kommen lassen, ist etwas Erdnußbutter an seiner Hand kleben geblieben. Am Morgen ist der Junge tot, im anaphylaktischen Schock erstickt: Erdnußallergie. Bills Pech: Der Vater des Jungen ist einer der mächtigsten Magnaten Manhattans. Seine Rache ist gründlich. Bill wird aus der noblen Anwaltskanzlei gefeuert, in der er das viele Geld verdient hat, und niemand will mehr etwas mit dem Kindsmörder zu tun haben. Ehefrau Judith („mit vierunddreißig hatten ihre Brüste immer noch Marktwert“) wechselt zu einem New-Economy-Tycoon nach Kalifornien. Auch zu Sohn Timothy reißt der Kontakt ab. Bill verkriecht sich in einer billigen Absteige und leckt deprimiert, arbeitslos und einsam seine Wunden. Irgendwann begreift er, dass er auch vor seinem Absturz ein Niemand war. „Meine Identität erwies sich als genauso austauschbar wie einer der maßgeschneiderten Anzüge, die ich einmal getragen hatte, und ich muss gestehen, dass ich, während ich zusah, wie Stück um Stück meines Lebens davonflatterte – Job, Ehe, Kind, Zuhause, Geld, Freunde – einer perversen Neugier frönte, was bleiben könnte.“

Ein New Yorker Jedermann
Das Bild, das Colin Harrison von diesem zeitgenössischen New Yorker Jedermann Bill Wyeth entwirft, ist - ironisch eingefärbt zwar, aber doch altbekannt aus der moralischen Traktatliteratur - das des reichen Mannes, der in der Brust kein Herz, sondern einen Geldbeutel hat. Das Schicksal hat ihn zu Boden geworfen, nun folgt die Zeit der Bewährung.
Zuflucht findet der Ausgestoßene in einem Steakhouse im südlichen Manhattan. Als Stammgast läßt er sich täglich an Tisch 17 nieder und findet seine innere Ruhe bei der Beobachtung der tafelnden Geschäftswelt wieder, zu der er nicht mehr gehört. Die Zeit seiner Buße beginnt, als Wyeth der attraktiven Restaurantgeschäftsführerin zu Liebe einem Mann bei der Abwicklung eines Immobiliengeschäfts zur Seite steht. Er aktiviert den Restposten seiner bürgerlichen Existenz, seine Kenntnisse als Anwalt, um nur all zu bald in eine Welt einzutauchen, in der die Spielregeln von Haß und Gewalt bestimmt werden. Symbol dieser anderen Welt ist der Havana Room im Keller des Restaurants, zu dem nur ausgewählte Gäste Zutritt haben, um dort geheimen Lüsten und Ritualen zu frönen.

Eine tiefgefrorene Leiche
Ehe er sich versieht, erliegt Wyeth dem jungenhaften Charme seines Mandanten Rainey und steckt mitten in einem Kriminalfall. Die Entdeckung einer gefrorenen Leiche auf dem Inselgrundstück am Meer ist nur der Beginn eines sich immer wilder drehenden Strudels aus Verfolgungen, Beschattungen und Schlägereien. Wyeth und sein sympathischer, jedoch gehetzt und krank wirkender, wie unter Zwang handelnder Geschäftsfreund geraten ins Visier eines dubiosen südamerikanischen Winzers und werden von den Schlägern eines fetten schwarzen Clubbesitzers verfolgt. Das Ganze endet tödlich und mit dem Untergang des Havana Rooms und seiner (hier natürlich nicht verratenen) Geheimnisse.

Bewiesene Vätersolidarität
Bestünde die Geschichte nur aus diesem Immobiliengeschäft und seinen Weiterungen im New Yorker Untergrund, wäre Havana Room nicht mehr und nicht weniger als ein elegant geschriebener Roman Noir, der durch die tragische Figur Raineys eine bemerkenswerte existenzielle Tiefe gewinnt. Doch damit wollte Harrison sich offenkundig nicht zufrieden geben und hat deshalb ein Happy End angestückelt. Erstaunlicherweise kommt Wyeth nicht nur mit dem Leben davon. Treu hat er zu seinem Mandanten gehalten, der, wie sich herausstellt, letztlich darauf aus war, sich mit seiner Familie zu versöhnen. Wie zur Belohnung für die erwiesene Vätersolidarität erhält Wyeth aus heiterem Himmel die Gattin und – noch wichtiger - den schmerzlich vermißten Sohn aus Kalifornien zurück, als wäre nichts geschehen.
Diese willkürliche Wendung macht aus Havana Room ein Stück zeitgenössische Erziehungsliteratur. Die Lehre, die der in seinem männlichen Selbstbild verunsicherte Leser aus dieser Schreckenserzählung in guter puritanischer Tradition ziehen soll, lautet: Liebe Deine Familie mehr als Deinen Job, sonst bestraft dich das Chaos. Mit diesem pädagogischen Subtext steht Harrison keineswegs allein da. In Harlan Cobens Thriller Keine zweite Chance, der gerade als Neuzugang auf der Krimibestenliste gelandet ist, bewährt sich ebenfalls ein Vater im Kampf um sein verschwundenes kleines Mädchen. Hier und in Havana Room zeichnet sich eine neue moralische Dimension ab. Zurück zu den „family values“ lautet seine Botschaft. Wer seine Familie nicht liebt, den bestraft das Leben.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die Welt vom 28.5.2005