Tobias Gohlis über Andrej Kurkow: Pinguine frieren nicht u. Picknick auf dem Eis




Kreuzchen - und schon sind sie tot

Mischa unter Gangstern

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Pinguine frieren nicht
aus dem Russischen von Sabine Grebing




Picknick auf dem Eis
Aus dem Russischen von Christa Vogel


 

 

Nur wer tot ist, lebt weiter

Gibt es etwas Anrührenderes als einen melancholischen Mann und einen Pinguin? Ja. Noch anrührender sind ein ukrainischer melancholischer Mann und ein einsamer Pinguin. Der Mann heißt Viktor, aber ein Sieger ist er nicht, nur ein Überlebender wie auch Pinguin Mischa. Mischa kam zu Viktor, als der Kiewer Zoo nicht mehr für Nahrung und Unterkunft seiner Pinguine aufkommen konnte und Viktor verlassen war. "Der Pinguin Mischa brachte seine eigene Einsamkeit mit, jetzt ergänzten sich die beiden Einsamkeiten." Mischa ist der stumme Held zweier wunderbar abgründiger Romane von Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis und Pinguine frieren nicht.
Pinguine werden krank, wenn es zu warm ist. Richtig wohl fühlen sie sich nur in der Kälte. Auf dem Wintereis des Dnjeprs zum Beispiel, wo schon mal am Neujahrstag ein erfrorener Angler neben seiner leeren Wodkaflasche liegt. Er hat es hinter sich. Die Welt, durch die sich Viktor und Mischa schlagen müssen, ist verkehrt. Nichts ist so, wie es einmal war. An die Stelle der sowjetischen Ordnung sind der Dollar und die Mafia getreten. Wir sind in der Mitte der neunziger Jahre, zwischen Gorbatschow und Putin. Die Welt ist irreal geworden und wird bewohnt von toten Seelen. Nur wer tot ist, lebt weiter.

"Kreuzchen" - und schon sind sie tot
Viktor ist Kleinschriftsteller. Sein Talent reicht für ein, zwei Seiten, nicht mehr, doch hat er Glück. Seine Geschichten gefallen dem Chefredakteur der "Hauptstadtnachrichten". Viktor wird Autor für "Kreuzchen" - für Nekrologe auf wichtige Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, die so schön geschrieben sind, dass sie Kolchosbauern zu Tränen rühren. Der Dollar rollt, Viktors Schreibgeschäft blüht. Kaum hat er einen Nachruf verfasst, ist der verdienstvolle Staatsmann, ist die begnadete Violinistin schon tot. Mischa, der Viktor mit Dossiers versorgt, gerät in Schwierigkeiten. Eines Nachts bringt er ihm einen Packen grüne Scheine und Sonja, seine vierjährige Tochter. Viktor ist nun für zwei Unmündige verantwortlich. Dabei ist er selbst ein halbes Kind, naiv, ahnungslos, beinahe wie betäubt tut er, was ihm aufgetragen wird. Eines Tages liest er den Nachruf, den sein Nachfolger auf ihn verfasst hat. Erst jetzt begreift er, dass er Proskriptionslisten ausgearbeitet hat, Hinweise auf diejenigen, die demnächst beseitigt werden sollen, um noch größeren Gangstern Platz zu machen.
Viktor versteht nicht, weil er nicht verstehen will. Er konzentriert sich ganz auf die mütterliche Fürsorge, die er für Sonja und Mischa hegt. Mögen um ihn herum die Schüsse fallen - er bangt um seinen kränkelnden Pinguin. Ja, er sorgt sogar dafür, mit Unterstützung seiner "Chefs", dass dem herzkranken Pinguin Mischa das Herz eines tödlich verunglückten Kindes verpflanzt wird. "Ohne jegliche Fragen von Ethik und Moral in Betracht zu ziehen", wie es im Nachruf auf ihn geschrieben steht.

Mischa unter Gangstern
Nur wer tot ist, lebt weiter. Um sich zu retten, verschwindet Viktor mit falscher Identität in der Antarktis. Zurückgekehrt, muss er nach Tschetschenien (in Pinguine frieren nicht). Mischa ist inzwischen als Geisel miteinander rivalisierender War- und Wirtschafts-Lords im Kaukasus gelandet. Als "Sklave" arbeitet Viktor dort im Totenhaus. Der gegenwärtige Besitzer Mischas betreibt an einer Gaspipeline eine Leichenverbrennungsanlage in einem Niemandsland des Todes, das Regierungstruppen wie Rebellen respektieren.
In dieser Hölle ist sogar das "Gesetz der Schnecke" außer Kraft gesetzt, das sonst die postsowjetische Welt regiert. Die Schnecke, so hat ihm der Abgeordnete Sergej Pawlowitsch erklärt, ist nackt und schutzlos ohne Haus. Wer überleben will, braucht ein Dach über sich, seien es Mischa und Sonja, die Viktor haben, Viktor, den der Abgeordnete schützt, oder der Abgeordnete selbst. Aber im Totenhaus hilft nur die Unschuld der Kinder selbst: Die kleine Sonja ringt dem Herrscher über das Totenreich das Versprechen ab, Mischa und Viktor freizulassen.
So märchenhaft das klingt und so leicht, elegant und heiter Kurkow die Abenteuer Viktors erzählt - seine beiden Bücher sind sehr genaue und oft satirische Spiegel einer Welt, in der die Verbrecher und niemand sonst das Verhalten aller bestimmen. In diesem Sinne handelt es sich um Kriminalromane der radikalen Art: Unschuldig sind nur Kinder und Tiere, alle anderen sind Gesetzgeber, Henker und Mitläufer.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 38, 9.9.2003