Tobias Gohlis über Batya Gur und Shulamit Lapid





Batya Gur: klar umrissene Problemzonen der israelischen Gesellschaft

Shulamit Lapid: alltägliche Konflikte

Lapid: Mitglied des Establishments

Außenseiterin inmitten des Chaos: Lisi Badichi

Zwischen Bewahrung und Moderne

Streit um Boden

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Shulamit Lapid: Die Geliebte auf dem Berg
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

 

 

 

Ganz normal: Familienkrieg am Rand des Negev

Vorwort zum Kultkrimi „Die Geliebte auf dem Berg“ von Shulamit Lapid in der Büchergilde Gutenberg

Es sind zwei Frauen, die unser Bild vom israelischen Kriminalroman geprägt haben: Batya Gur (1947 – 2005) und die 1934 in Tel Aviv geborene Shulamit Lapid. Bei allen Unterschieden in Alter, Herkunft und politischer Haltung legen beide den Schreibfinger auf Wunden, die in der jungen, sich von außen bedroht sehenden Einwanderergesellschaf Israel zu schnell vernarbt sind. Sie müssen literarisch erneut aufgebrochen, die Verletzungen noch einmal durchlebt werden, um ausheilen zu können. Dabei verfolgt Batya Gur einen eher psychoanalytischen und stärker politischen Zugriff, Shulamit Lapid rekonstruiert (familien-) geschichtliche Zusammenhänge.

Batya Gur: klar umrissene Problemzonen der israelischen Gesellschaft
Bevor wir uns dem Roman Lapids zuwenden, der als letzter auf Deutsch veröffentlicht wurde, soll ein Blick auf Batya Gurs letzte Romane diesen Unterschied akzentuieren. In Denn die Seele ist in deiner Hand erweist sich der Mord an einer jungen Frau als Ausdruck einer langjährigen Rivalität zweier jüdischer Einwandererfamilien, die – beide um gesellschaftliche Anerkennung ringend – im neuen Zion noch nicht völlig angekommen sind. In Und Feuer fiel vom Himmel ist es ein erst spät ans politische Tageslicht gedrungenes reales Kriegsverbrechen des israelischen Militärs, das zum Mord an mehreren Abteilungsleitern in einem Fernsehsender führt. Batya Gurs Ermittler, Inspektor Michael Ochajon, ermittelt in klar umrissenen Problemzonen der israelischen Gesellschaft: mangelhafte Integration und gravierende Ungleichheit zwischen verschiedenen jüdischen Einwanderergruppen im ersten, ungelöste Gewaltgeschichte im zweiten Fall.

Shulamit Lapid: alltägliche Konflikte
Der Fall, mit dem es Lisi Badichi in Shulamit Lapids Die Geliebte auf dem Berg zu tun hat, beginnt zwar mit einem politischen Ereignis – der Bürgermeisterwahl in Be'er Scheva – und dreht sich um das Thema Israels überhaupt – Eigentum an Grund und Boden – , seine Ursachen findet er dann aber eher nicht in der politischen Sphäre. Auch die Wahl des Schauplatzes zeugt von einer Orientierung der Autorin auf alltägliche, nicht-metropolitane Konflikte. Be'er Scheva liegt zwar fast genau im geographischen Zentrum Israels, ist aber mit 184.000 Einwohnern die kleinste der großen Städte und leidet als Provinzstadt mit ländlicher Umgebung unter einem strukturellen Minderwertigkeitskomplex. Diesen mit gigantomanischer Bautätigkeit zu kompensieren, ist das Ziel des Bürgermeisterkandidaten Ehud Lion und seiner Baufirma Lion Erbauer des Negev, dessen Name bereits von ungetrübtem Größenwahn zeugt. Provinziell beengt ist auch die Situation der Ermittlerin. Lisi Badichi, die nur von ihrer Mutter Lisette genannt wird, hat – wie ihre Erfinderin – Orientalistik studiert, war erst Sekretärin, dann Lokalreporterin der Zeit im Süden. Ihre journalistische Freiheit wird reguliert durch das Anzeigenaufkommen aus der regionalen Geschäftswelt und ist beschränkt durch die Machtvollkommenheit des in Tel Aviv redigierenden Chefs Arieli, der ihr "stets das entzückende Gefühl eines darniederliegenden Wurms" vermittelt, zumal er das überregionale Mantelblatt Zeit beherrscht.

Lapid: Mitglied des Establishments
Die Geliebte auf dem Berg ist der sechste Kriminalroman Shulamit Lapids mit Lisi Badichi und ist 2000 auf Hebräisch, zwei Jahre später in deutscher Übersetzung durch die berühmte und mehrfach hoch ausgezeichnete Kinderbuchautorin Mirjam Pressler erschienen. Shulamit Lapid stammt aus einer Familie, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina eingewandert war. Sie wurde 1934 in Tel Aviv geboren. Ihr Vater David Giladi war Mitbegründer der Tageszeitung Ma'ariv . Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann Josef "Tommy" Lapid kennen, der 44 Jahre an diesem Blatt tätig war, u.a. als Chefredakteur und Herausgeber. Er war zeitweise Leiter des staatlichen Rundfunks und als Vorsitzender der liberalen Schinui-Partei ein erfolgreicher Politiker, der 2003 bis 2004 sogar Justizminister war. Shulamit Lapid gehört also selbst dem Establishment an, dass sie aus der Perspektive Lisis kritisch betrachtet. Obwohl Shulamit Lapid in einem Interview mit der Tageszeitung Ha'aretz 2006 sich selbst als lieber zurückgezogen lebende Hausfrau charakterisiert, die am öffentlichen Leben nur teilnimmt, wenn es sich nicht vermeiden lässt , war sie 1985 bis 1987 Vorsitzende des Hebräischen Schriftstellerverbandes. Lapid, die auch Kinderbücher und Theaterstücke verfasst hat, fand erstmals weite Anerkennung mit ihrem historischen Roman Im fernen Land der Verheißung. Darin schildert sie den heroischen Kampf der jüdischen Siedler, die mit der ersten Alijah (Einwanderungswelle) Ende des 19. Jahrhunderts nach Palästina gekommen waren und dort unter erbärmlichen Bedingungen ihr Dasein fristeten. Heldin des Romans ist Fania, die sich als Mutter und Händlerin durchschlägt, erfolgreich gegen arabische Nomaden und patriarchale Männer. Der 1982 erschienene Roman wurde als erster "feministischer Roman" der neueren israelischen Literatur gelesen . Die Rolle der Frauen und die Geschichte der ländlichen Besiedlung sind auch die großen Themen in den Kriminalromanen der Lisi-Badichi-Serie.

Außenseiterin inmitten des Chaos: Lisi Badichi
Lapids Protagonistin Lisi Badichi ist von Natur aus eher zur Außenseiterin bestimmt. Gesegnet mit übergroßen Füßen – die sich im aktuellen Fall als erhebliche Ermittlungsbremsen erweisen – einem kräftigen Körper und einem entsprechend instabilen Selbstvertrauen, gibt die Reporterin der Zeit im Süden einen auffälligen Kontrast zum traditionellen Bild der angepassten Familienmutter, dem ihre beiden Schwägerinnen und die eigene Mutter trotz Berufstätigkeit eher entsprechen. Lisi kann sich ihr Außenseitertum leisten. Sie ist in Israel aufgewachsen, gehört bei allem Selbstzweifel dazu und erfährt, wenn es hart auf hart kommt, auch Bestätigung durch ihre Leser. Auch in Liebesdingen hat sie im sechsten Roman ihren eigenen Weg gefunden. Im ersten, Lokalausgabe war sie mit 30 noch Jungfrau. Jetzt ist sie umworben von Anwalt Roni, der ihr sogar mehrfach einen Antrag gemacht hat. Frauen bestimmen das ganze Geschehen im Hintergrund. Der Titel Die Geliebte auf dem Berg lässt zwar auf eine geheime Liebesgeschichte und eine Frau im Verborgenen schließen. Zunächst aber spielt sich das Drama als Rivalität unter Männern ab. Der wohlhabende Orientalistik-Professor Moschik Bamberg und der Bauunternehmer Ehud Lion sind seit ihrer gemeinsamen Militärzeit verfeindet und sind in einen zunächst geheimen Kampf verwickelt. Erst allmählich treten die im Hintergrund die Fäden ziehenden Frauen hervor.

Zwischen Bewahrung und Moderne
Auch das Motiv der Rivalität wird deutlicher. Es ist, ins Israelische gewendet, der Konflikt zwischen Bewahrung lokaler, als gemütlich und lebendig empfundener Strukturen und der wilden, geldgierigen Moderne. Man könnte sich an Pepe Carvalhos Verteidigung des alten Barcelona in den Romanen Vázquez Montalbáns erinnert fühlen, wäre das Milieu des Moschav Tel Benjamin vertrauter. Als Moschav bezeichnet man die genossenschaftlich organisierten ländlichen Siedlungen, während die Kibbuzim auf gemeinschaftlichem Eigentum beruhen.

Streit um Boden
Das Bild, das Lapid vom Zusammenleben der jüdischen Einwanderer mit den Beduinen des Negev zeichnet, ist nicht konfliktfrei, aber auch nicht von Gewalt und Repression geprägt. In einem Porträt charakterisiert sie der Reporter der linksorientierten Ha'aretz als "Zionistin der alten Schule", die "kaum einen Makel an ihrem geliebten Traum findet". Lapid unterstreicht hier ihre Sicht der jüdischen Landnahme, die auch den Hintergrund des Romangeschehens bildet: "Kolonialismus? Wenn die Effendis (die meist türkischen Großgrundbesitzer, TG.) ihr Land verkauften, wo die Beduinen lebten, und diese, aus ihrer Sicht völlig zu Recht, sich um ihr Land beraubt sahen und zu stehlen begannen, um nicht zu verhungern – dann war das ein Konflikt zwischen Individuen, die das selbe Stück Land benötigten." In diesem Fall sind es – zwei Generationen später – gerade einmal 1000 Dunam (1 Quadratkilometer) Boden. Dass die militärische Eroberung des Negev im Unabhängigkeitskrieg 1947 eine massive Flucht der ansässigen Bevölkerung auslöste, spielt in einer Weltsicht keine große Rolle, in der die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind. So mag manchem kritischen Betrachter von außen Lapids Geschichtsbild recht konservativ scheinen. Ihrer subtilen, witzigen Kritik am alltäglichen Schlamassel, am schlichten, hartnäckigen und konservativen Ehrgepussel und Gierbetrieb tut dies keinen Abbruch. Sie lesen mit Die Geliebte auf dem Berg einen Kriminalroman aus der Normalität eines Staates, von dem es heißt, es sei "eine Krise, die sich bemüht, ein Land zu werden. "

Tobias Gohlis, Hamburg, Dezember 2011

Siehe auch: Tobias Gohlis über Shulamit Lapid: Die Geliebte auf dem Berg