Tobias Gohlis über die Aneignung des Lebens durch Gehen

 




Mein Kopf ist leer. Mit dem Stock versuche ich, den Takt vorzugeben

Ein Haus aus Grassoden, darin ein roter Punkt

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Sigrid Damm: Tage- und Nächtebücher aus Lappland.
Bilder von Hamster Damm; Insel Verlag, Frankfurt am Main/Leipzig 2002;

 

 

 

 

Folgt uns in die Stille

Von der Aneignung des Lebens durch Gehen - Sigrid Damm und ihr Sohn erforschen Lappland und sich selbst

Zwei Menschen, Mutter und Sohn, haben ihren Ort gefunden. Sie: "Für mich sind die Berge Lapplands kein Arbeitsraum. Sie sind das Haus, in dem ich ausruhe, nichts tue, nur genieße, Atem hole; der Raum für Atemzüge." Er: "Ich habe sieben lose Blätter bei mir, gestärktes weißes Zeichenpapier DIN-A4. Jeden Tag, nehme ich mir vor, werde ich einen der Zeichenkartons füllen. Eine Arbeitswanderung, ein Selbstversuch? Vielleicht ein Experiment mit der Einsamkeit."
Dieses Buch ist ein Geschenk. Mutter und Sohn, die Schriftstellerin Sigrid und der visuelle Künstler Hamster Damm, haben darin die Welt festgehalten, die ihnen die Ruhe zum Leben gibt. Ein Geschenk, eine weitherzige Einladung: Kommt herein, betrachtet unsere Welt, die wir lieben, folgt uns in die Stille, betretet unseren Raum. Er ist groß genug für alle.
Nach der Wende war der Künstlersohn nach Roknäs im schwedischen Norbotten gezogen, auf der Flucht vor der Informations-, Material-, Zeichenfülle Berlins. Die Schriftstellermutter kam nach, als Gast, später, fand im Vorratshaus eine rot gestrichene Kammer. Es war jene, wie ihr bewusst wurde, die ihr schon immer vorgeschwebt hatte, ihr Ort der Schreibeinsamkeit. Da war sie fast sechzig. "Warum so spät dieser Ort? Weil man ihn nicht suchen kann, sondern finden muß."
Um ein Heim besitzen zu können, muss man es verlassen haben. Von der Aneignung einer Landschaft durch Gehen handeln die Tage- und Nächtebücher aus Lappland. Beide, Mutter und Sohn, erzählen von einer sieben Tage dauernden Wanderung oberhalb des Polarkreises, weit nördlich ihres Domizils in Roknäs. Sie wandern im Padjelanta, einem Gebiet im lappischen Nordland, das als Naturpark geschützt ist: "ein Hochland mit Kahlfjäll, Gletschern, Mooren und weiten Wasserflächen". Er ging voraus, Jahre später nahm sie den gleichen Weg, wir Leser folgen: Eine oder zwei Seiten Text sind sein Bericht, dann kommen eine oder zwei Seiten von ihr, so geht es sieben Tage und Kapitel lang.
Großformatige Fotografien saugen den Betrachter in die Weite der Seen und der Hochebene, locken ihn ins dämmernde Heidekraut, in die Schattenspiele letzter Birkenwälder und hinauf in die elektromagnetische Welt der Aurora borealis. Ist der Blick erschöpft von den Rätseln der Imagination, sinkt er in den Text unter den Bildern, lässt sich weitertragen von den Erzählungen von Mutter und Sohn, bis wieder ein neues Bild den Horizont vorgibt. Ein schöneres Reiseliteratur habe ich in vielen Jahren nicht gesehen.

"Mein Kopf ist leer. Mit dem Stock versuche ich, den Takt vorzugeben"

Mit den ersten Schritten beginnt die Reinigung. Sie: "Mein Kopf ist leer. Mit dem Wanderstock versuche ich die Schritte zu akzentuieren, mir den Takt vorzugeben. Langsam, allmählich: Schrittmaß, Schrittgeschwindigkeit. Mein Körper stellt sich auf Wanderschritte ein." Ausgangspunkt aller Erfahrung ist der Körper, aber er muss wiederentdeckt werden.
Es ist ein weiter Weg zu sich selbst, Wandern ist der kürzeste. Kaum ist der Sohn aufgebrochen und hat seinen Marschrhythmus gefunden, imaginiert er die erste Verwandlung: "Meine Füße, spüre ich auf einmal, stecken nicht mehr in Wollsocken, sie sind nackt, meine Schuhe sind mit Moosgras ausgepolstert, und meine Wanderschuhe, sehe ich, verwandeln sich langsam, ganz langsam in näbbskor, in lappländische Stiefel, wie sie früher die Samen trugen." Man könnte eine Phänomenologie des Wanderns aus den Aufzeichnungen der beiden gewinnen: wie der Körper zu seinem Rhythmus findet; wie mit jedem Schritt die Sorgen schwerer werden, bis sie abgefallen sind; wie das Alleinsein, die Müdigkeit und die Anstrengung die innere Kraft wecken, sodass der Mensch leicht wird, heiter, aufmerksam. "Ich habe Abendfüße", notiert sie am zweiten Tag. "Ich bin zufrieden mit mir." So schnell geht das.
Wer einmal selber versucht hat, den Reichtum einer Reiseerfahrung in allen seinen sinnlichen, gedanklichen und ästhetischen Facetten zu erfassen, wird die Tage- und Nächtebücher aus Lappland betreten wie eine Wunderkammer. Auch der Zusammenstoß eines Kopfes mit einer Landschaft kann dumpf klingen. Nicht in diesem Buch. Willig folgt man den Assoziationen und Erinnerungen, die Landschaft und Natur in den beiden Wanderern wecken. Es ist, als vernähme man zu den Bildern zwei Melodien, ähnlich, aber nicht gleich. Sie: "Am Morgen stehe ich auf den Steinen am Wasser. Wasser verrinnt, Zeit verrinnt. Ich versuche, mir den Lauf des Flusses vorzustellen, wo er seinen Ursprung hat, wo er endet." Er: "Ich gehe zum Wasser, stehe auf den Steinen. Die Landschaft gehört mir, ich bin allein in ihr. Ruhe - Weite - Einsamkeit. Ich spreche die Worte wie Vokabeln, wie eine auswendig zu lernende Lektion vor. Denn in mir ist Unruhe."
In den Tage- und Nächtebüchern aus Lappland lesend, gewinnen verbrauchte Worte neue, alte Bedeutung. Zum Beispiel: ausgehend. Das zur Einleitungsfloskel bürokratischer Hilflosigkeit erstarrte Wort wächst: Wir lesen mit, wie Mutter und Sohn dieses karge Hochland ausgehen, wie aus ihrem Gehen Bilder, Träume, Erinnerungen entstehen, welche Kraft von diesem Land in die beiden Wanderer übergeht.
Dem, der nicht nahe genug heran- und in sie hineingeht, mag die lappländische Arktis öde vorkommen, eine krude Sammlung von Wasser, Steinen und Gras. Sigrid und Hamster Damm haben sich dieser Landschaft anverwandelt. Mit den Tage- und Nächtebüchern aus Lappland betreten wir einen Zaubergarten, eine Spielwiese, ein Wolkenkuckucksheim. Jedes intensive Reiseerleben hat einen Kern, der nicht kommunizierbar ist. Kommt das Glücksgefühl, das sich auf den Gesichtern der Heimgekehrten spiegelt, den Daheimgebliebenen nicht bewundernswert und zugleich leicht schwachsinnig vor? Die Tage- und Nächtebücher aus Lappland bilden eine Ausnahme: Hier ist der mystische Kern des Erlebens spürbar. Schon die Berichte der beiden Wanderer, aufgezeichnet von der Schriftstellermutter, vibrieren vor Intensität, doch eröffnen die Fotografien Hamster Damms eine noch eindringlichere Dimension der Wahrnehmung.

Ein Haus aus Grassoden, darin ein roter Punkt

Das Gedankenspiel eines jeden Wandertages, der mit der Befriedigung der körperlichen Notdurft beginnt und im Phantasmagorischen ausläuft, wiederholt sich in den Bilderfolgen der sieben Tageskapitel. Ein Landschaftsbild, eine großformatige Naturaufnahme, ein Detail öffnen den Blick. Doch dann ziehen in die anschließenden Bilder magische Elemente ein: Die Realitätsebene der fotografischen Objektabbildung wird übersprungen durch Einblendungen anderer Orte, durch Montage und Übermalung. Zu dem Bericht aus einem aufgegebenen, nur noch als Ruine erhaltenen Samendorf komponieren Hamster und sein Bruder Tobias Damm diese Bildgeschichte: Von fern sieht man ein Samenhaus aus Grassoden, mit einem roten Punkt. Bild um Bild wird der rote Punkt näher gerückt, bis der Betrachter durch ein Fenster auf den glühend lebendigen Altar eines Schamanen schaut.
Als die beiden Wanderer losgingen, wussten sie nicht, ob sie rechtzeitig den Fährmann erreichen könnten, dessen Boot sie zur Heimkehr benötigten. Doch sie fanden zurück. Und zum Glück der gelungenen Reise kam das noch größere der Kunst, sie nacherlebbar zu machen.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 25 Juni 2002