Tobias Gohlis interviewt John le Carré

 

John Le Carré
Foto © Mark Mather

 

 

 

John le Carré — ein Mönch der Wahrheit

Als Gentleman, wie man ihn bei Evelyn Waugh, Graham Greene oder dem großen Vorbild Joseph Conrad beschrieben findet — so präsentiert sich John le Carré zum Interview im Hamburger Hotel Atlantic. Hier sind nicht nur Udo Lindenberg und er selbst Stammgast, sondern auch Tommy Brue. Der schottische Privatbankier wird in John le Carrés neuem Roman Marionetten vom britischen Geheimdienst manipuliert. „Tommy Brue - das bin ich“, verrät der weißhaarige ältere Herr und rückt das Hörgerät gerade. Beinahe anderthalb Stunden steht er geduldig, nur manchmal ins Englische fallend, in fließendem Deutsch Tobias Gohlis Rede und Antwort. Dem Meister des modernen Spionageromans ist es gleich, ob man ihn mit seinem bürgerlichen Namen David Cornwell anredet oder mit „John le Carré“. Zur Entstehung dieses Pseudonyms hat er zahllose Geschichten in die Welt gesetzt.

Tobias Gohlis: Sie sind kürzlich 77 geworden. Sind Sie inzwischen mit sich einig geworden, wie Ihr Pseudonym entstanden ist?
John le Carré: Jetzt habe ich mich auf eine schlichte Geschichte geeinigt, und ich glaube, das ist sogar die wahre. Ich ging damals zu meinem Verleger Viktor Gollancz und sagte, ich muss ein Pseudonym wählen. Er war für einsilbige angelsächsische Namen wie Young, Smith usw.
TG: Wie kamen Sie auf „le Carré“?
JlC: Also erst einmal John, weil das ganz bieder ist, und „le Carré“ vor allem für den englischen Markt. Das klingt so ein bisschen französisch, wie aus der Normandie vielleicht, auf jeden Fall interessant.
TG: Die gespaltene Persönlichkeit als Voraussetzung für Kreativität?
JlC: Das ist es, was Thomas Mann als Künstler-Bürger-Problem beschrieben hat. Auf der einen Seiten wollen wir uns als Einzelleute betrachten, auf der anderen Seite wollen wir immer das Verhältnis zu den Institutionen aufrechterhalten.
TG: Hat Ihnen die britische Regierung schon einmal einen Orden angetragen?
JlC: Als Margaret Thatcher noch Innenministerin war, wurde mir ein solches Angebot gemacht. Ich habe abgelehnt. Wir Künstler sollten außerhalb der Stadtmauern bleiben.
TG: Das Spionieren, haben Sie immer betont, sei Ihnen in die Wiege gelegt worden…
JlC: Graham Greene hat einmal gesagt, dass die Kindheit das Kreditkonto eines Schriftstellers ist. In dem Sinne bin ich Millionär. Mein Vater war von Beruf Hochstapler, war etliche Male im Gefängnis, nicht nur in England. Was meine Mutter war, weiß ich nicht. Sie ist in meinem 6. Lebensjahr verschwunden. Bei Goethe heißt es, vom Vater habe er die Statur, von der Mutter die Lust zu fabulieren. Mein Vater hatte die Lust zu Fabulieren, aber er musste auch Statur haben. Als Hochstapler musste er beeindrucken, man sollte Vertrauen zu ihm haben. Wir haben ein Scheinleben geführt. Wir gaben uns als reich und als Gentlemen aus. Mein Bruder und ich mussten uns da anschließen. Für uns war das Normalität, ein bisschen zu lügen, ein bisschen zu täuschen.
TG: Wie haben sich diese Jugenderfahrungen auf Ihr Verhältnis zur Sprache ausgewirkt?
JlC: Mein Vater kam aus der Arbeiterschicht, und sein großer Ehrgeiz war, dass mein Bruder und ich Gentlemen werden würden. Dazu gehörte die Ausbildung, die er irgendwie bezahlt oder nicht bezahlt hat. Seit meinem 6. Jahr war ich in einem Internat. Ein Engländer ist auf der Zunge gebrandmarkt, wie wir sagen. Ich musste dort meine Stimme an die Stimme des Feindes anpassen. Wie ein kleiner Spion auf feindlichem Gebiet. Ich war ein Emporkömmling, ich habe die Gesten studiert, auch die Haltungen und Vorurteile. Ich hab sofort gelernt, dass man Juden verachtet z. B., was in unserer Gesellschaft damals sehr normal war, dass man die unteren Schichten verachtet, dass man mit denen kein Fußball spielt, das sind alles Bauernkinder. Mein Bruder und ich haben so gelernt, diese sehr unschöne gesellschaftliche Leiter raufzusteigen. Und das war, das könnte man aus dem Rückblick sagen, eine Spionageaktivität.
TG: Eine Schule für den Spion und den Schriftsteller?
JlC: (lacht) Das war natürlich für den Schriftsteller und den Spion sehr vorteilhaft. Die geheime Welt war für mich perfekt. Da hatte ich auf einmal eine Institution, in die ich Vertrauen investieren konnte. Ich fürchtete, dass ich die Schwächen meines Vaters geerbt hatte und fand hier eine Ethik, eine Moral, Patriotismus. Ich sah mich als jungen Ritter, der auf einem weißen Ross in die Gesellschaft ging, um Gutes zu tun.
TG: War der Patriotismus Ihr ethische Rückrat?
JlC: Ja. Für unsichere, schwache Mentalitäten ist der Geheimdienst eine Heimat, Zuflucht aus der wirklichen Welt. Und den Egoismus spricht der Gedanke an, dass man eben die schmutzige Arbeit leistet, die andere nicht leisten.
TG: Hochbegabte Leute halten sich insgeheim oft selbst für Schwindler. Kennen Sie dies Gefühl?
JlC: Doch, das kenne ich sehr gut. Und immer wieder. Je größer der Erfolg, desto unsicherer das innere Herz. Und man fragt sich: is it me, is it me?
TG: Welche Bedeutung hatte 1989 für Ihr Schreiben?
JlC: Mein Stoff war ausgelaufen, weil der Kalte Krieg zu Ende war. Es gab diesen Augenblick - komischerweise genau wie heute mit Obama - wo es möglich gewesen war und jetzt möglich ist, dass Sie die Welt umkonstruieren und einen neuen Anfang machen. Es gab damals keine große Idee, wie man denn die Welt umschalten sollte, how to design the world, und darum ging alles schief. Wir sind sehr materialistisch geworden, sehr selbstsüchtig.
TG: Was erhoffen Sie sich von Obama?
JlC: Ich habe sehr viele Hoffnungen in diesem Augenblick, aber die darf man haben.
TG: Als Kenner der Politik und der Geheimdienste müsste Ihr Vertrauen in die Möglichkeiten der Politik doch eher gering sein?
JlC: Ich habe minimales Vertrauen in die Macht der Politiker. Aber wir wissen, es gibt Augenblicke in der Geschichte, wo sich die Gesinnung der Welt ändert. Genau wie jetzt, wo die Hoffnungen eigentlich größer und wertvoller sind als die Verwirklichung dieser Hoffnungen. Jetzt ist ein solcher Augenblick.
TG: Können Sie das ein bisschen erklären?
JlC: Es gibt keine Rechtfertigung mehr für Rassismus. Diese Gründe sind weg. Es gibt keine Rechtfertigung mehr für einen Schwarzen, sich als minderwertig zu sehen. Das ist nicht durch einen Staatsmann herbeigeführt worden, sondern durch das Wunder einer Wahl! Der Wille der Bevölkerung ist manchmal stärker, glaube ich, als die Fähigkeiten der Politiker.
TG: In Ihrem neuen Buch Marionetten ist die wichtigste Figur Issa ein völlig unschuldiger tschetschenischer Muslim, der zum Objekt und Opfer der westlichen Geheimdienste wird. Warum zeichnen Sie die Welt so schwarz-weiß?
JlC: Als ich für Marionetten zu recherchieren begann, war ich sehr aufgebracht über die Einschränkungen der Freiheitsrechte in meinem Land. Ich hielt den Krieg gegen den Terror für Unsinn. Man kann keinen Krieg gegen eine Taktik führen. Der Krieg gegen den Terror versetzt uns in Furcht vor dem Islam, in Furcht vor einem Gang in den Supermarkt, überhaupt in Furcht. Selbst zur Zeit der viel konkreteren irischen Bedrohung haben wir die Menschenrechte nicht so eingeschränkt wie jetzt. Ich denke, die acht Jahre Neokonservatismus, die auf den 11. September gefolgt sind, waren eine Katastrophe für die Welt. Jetzt haben wir eine Chance zur Reparatur. Die (Irakkriegs- TG.) Politik von Schock und Einschüchterung war mir widerwärtig. Ich fand einfach keinen Raum, die Moral von Folter zu erörten oder psychologische oder moralische Motive zu hinterfragen. Ich wollte einen unschuldigen Menschen darstellen, der vor unseren Augen verletzt wird.
TG: Und wie soll man mit dem islamistischen Terrorismus umgehen?
JlC: Da gibt es in Marionetten die Figur des muslimischen Weisen, der ein Hilfswerk betreibt. 95 Prozent seiner Aktivitäten sind gut, nur 5 Prozent sind nicht so gut. Da sehen wir das Dilemma, vor dem wir stehen. Man kann nicht alle Verdächtigen erschießen. Es ist unmöglich, dass wir diesen Krieg gewinnen. Wir müssen das durch Politik und durch kulturelles Verständnis und durch starke, starke Diplomatie fertig bringen. Jetzt fangen wir endlich an, soviel ich weiß, mit den Taliban zu sprechen. Wir fangen an, mit Iran an zu sprechen. In diesem großen Rahmen wird der Krieg gegen Terror endlich, endlich richtig unternommen. Das hoffe ich.
TG: Sind Geheimdienste überflüssig?
JlC: Man kann diese Dienste nicht abschaffen. Das ist absurd. Man könnte ebenso gut sagen, es gibt keine Akademiker mehr. Was in den letzten Jahren geschehen ist, ist die Politisierung des Geheimdienstes. Und das ist sehr gefährlich. Während meiner Zeit im Geheimdienst waren wir sozusagen Mönche der Wahrheit. Unsere Pflicht war es, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.
TG: Wie fühlen sie sich mit Ihrem neuen, dem einundzwangsten Buch?
JlC: Ich bin jetzt 77 Jahre alt. Jetzt glaube ich, dass ich alle Instrumente meines eigenen Orchesters spielen kann. Ich bin absolut auf der Höhe. Für wie lange? Fünf Minuten? Ich weiß nicht. Ich fühle mich jetzt endlich viel freier, und hab vieles gesagt, was ich sagen wollte. Ich kann’s nicht anders sagen.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die Welt vom 13.11.2008

Siehe auch: Tobias Gohlis über John le Carré Empfindliche Wahrheit

Siehe auch: Tobias Gohlis über John le Carré Marionetten

Siehe auch: Tobias Gohlis: Nachwort zu John le Carrés Agent in eigener Sache