Tobias Gohlis über 50 Jahre Bergsteigen am Nanga Parbat





Berg der Zwietracht

1970 Günther Messner stirbt

Die Schlüsselstelle

Schwelender Konflikt

Sozialer Störfaktor Bruder

Es geht um das Höchste

Aus Streit entsteht sozialer Hass

____

Max von Kienlin:
Die Überschreitung — Günther Messners Tod am Nanga Parbat. Expeditionsteilnehmer brechen ihr Schweigen
Herbig, München 2003

Ralf-Peter Märtin:
Nanga Parbat —
Wahrheit und Wahn des Alpinismus.
Berlin Verlag, Berlin 2002

Reinhold Messner:
Die weiße Einsamkeit — Mein langer Weg zum Nanga Parbat.
Malik, München 2003

Hans Saler:
Zwischen Licht und Schatten —
Die Messner-Tragödie am Nanga Parbat.
A 1 Verlag, München 2003


 

 

Nur der Gipfel war Zeuge

Vor 33 Jahren waren Reinhold und Günther, Max, Gerhard, Karl und Peter und Hans, Felix und Jürgen Freunde. Die Kameraden kletterten in Eis und Fels, bei Schneestürmen und manchmal auch Sonnenschein an der höchsten Steilwand der Erde. Die Rupalwand des Nanga Parbat, 4500 Meter Fels und Eis, ist „die Eigernordwand, das Matterhorn und die Monte-Rosa-Ostwand übereinander“ – darin sind sie sich auch heute noch einig. Vielleicht ist das ihr Problem: Sie sind sich so einig und so ähnlich, dass sie sich bis aufs Blut bekämpfen müssen.

Berg der Zwietracht
Der Nanga Parbat, als neunthöchster Gipfel der Erde zwischen Kaschmir und Pakistan gelegen, wurde in den 30er Jahren zum „Schicksalsberg der Deutschen“ stilisiert: etliche Expeditionen scheiterten beim Versuch der Erstbesteigung. Die gelang erst am 3. Juli 1953 – vor fünfzig Jahren –Hermann Buhl. Doch Expeditionsleiter Karl Herrligkoffer neidete ihm seinen Sieg. Der Nanga wurde zum Berg der Zwietracht, und es scheint, als sei es das Schicksal seiner Bezwinger, in Streitsucht zu verfallen.

1970 Günther Messner stirbt
Der Ausgangspunkt des jüngsten Streits, der seinen Niederschlag in nunmehr drei Büchern gefunden hat, liegt lange zurück. Am 27. Juni 1970 steigen die Brüder Reinhold und Günther Messner, Mitglieder einer ebenfalls von Karl Herrligkoffer geleiteten Expedition, vom letzten Hochlager auf den Nanga Parbat (8125 Meter). Da Günther sich zu schwach fühlt, steigen sie auf einer anderen Route ein Stück ab und überstehen in 8000 Meter Höhe bei 30 Grad Kälte die Nacht. In mittlerweile vier Büchern hat Reinhold dargestellt, er habe dann auf der anderen Seite des Nanga Parbat mit Günther über die 3500 Meter hohe Diamirflanke absteigen müssen, weil die Rückkehr über den unversicherten Aufstiegsweg zu schwierig gewesen sei. Am Ende dieser Not-Überschreitung sei Günther vermutlich, schon fast unten am Talgrund, von einer Eislawine erschlagen worden.

Die Schlüsselstelle
Die Schlüsselstelle dieser Geschichte liegt jedoch oben am Berg. Denn am Morgen nach dem Biwak in der Todeszone wurde Reinhold noch einmal von den Nachsteigenden Felix Kuen und Peter Scholz gesehen. Er stand an einer unzugänglichen Stelle etwa 80 bis 100 Meter über ihnen und rief etwas herunter. Was alles im Gipfelwind geschrien und verstanden wurde, ist unklar. Einigkeit herrscht darin, dass Reinhold bestätigte, die Brüder seien am Gipfel gewesen. Alles sei in Ordnung, die beiden würden auf ihrer Seite absteigen. Kuen und Scholz sind jedenfalls weiter zum Gipfel gestiegen. Nichts von dem, was sie von Messner erfuhren, ließ sie annehmen, Günther sei in Gefahr. Laut Messner kauerte er höhenkrank weiter hinten an der Biwakstelle.

Schwelender Konflikt
Als Reinhold Messner nach einem mehrtägigen Martyrium (er war völlig erschöpft, seine Füße teilweise erfroren) ohne Günther mit der Expedition wieder zusammentraf, begann der Streit. Er eskalierte in 14 Prozessen. Messner warf Herrligkoffer unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Tötung und Verleumdung vor, dieser konterte mit Unterlassungsklagen und dem Vorwurf, die Messners hätten den Expeditionsvertrag gebrochen. Der Streit versickerte, nachdem Messner alle Prozesse verloren hatte. Herrligkoffer starb, auch einige der unmittelbar Beteiligten – Kuen, Scholz und Mändl – sind tot. Doch der Konflikt schwelte weiter, 30 Jahre lang. Als im Oktober 2001 der Bergschriftsteller Horst Höfler sein neues Buch über Herrligkoffer vorstellte, weckte ein einziger Satz die lange unterdrückte Wut der anderen Expeditionsteilnehmer auf Messner: „Der Chronist fragt sich (…), warum aus der Expeditionsgruppe nicht ein paar Leute Manns genug gewesen waren, um als Suchtrupp über den Mazenopass auf die Diamirseite zu gehen. Warum hat man es nicht wenigstens versucht?“.

Sozialer Störfaktor Bruder
Die Expeditionsteilnehmer Jürgen Winkler und Gerhard Baur protestierten lauthals gegen diese „Verleumdung der Mannschaft“ und beschuldigten Höfler, er sei von Messner vorgeschickt. Messner, von dem das Vorwort stammt, replizierte, es sei nicht Herrligkoffers Fehler, sondern einer der Mannschaft gewesen, ihm nicht zu Hilfe gekommen zu sein. Von da an ging es Schlag auf Schlag: Messner veröffentlichte sein Nanga-Parbat-Buch Der nackte Berg, Baur und Hans Saler reagierten mit offenen Briefen. Magazine wie Profil, Spiegel oder stern wurden Sprachrohre im Interviewkrieg. Anfang Juni 2003 sind nun drei Bücher, von Messner, von Saler und von Max von Kienlin, erschienen, in denen jeder in voller Breite um die Deutungshoheit kämpft. Die Frontlinien verlaufen wie 1970, nur die Truppen haben andere Positionen bezogen. Baur, Kienlin und Saler, die sich 1970 mit Messner gegen Herrligkoffer solidarisiert hatten, übernehmen jetzt Herrligkoffers alte Vorwürfe. Messner habe von Anfang an aus aberwitzigem Ehrgeiz die Überschreitung zur Diamirseite geplant. Als Günther ihm unerwartet nachgestiegen sei, habe er den Schwächeren verantwortungslos mitgehen lassen. Irgendwo oben am Berg habe er ihn verlassen, weil der „geschwächte Bruder ein unvorhergesehener Störfaktor“ (Saler) für Messners Übersteigungspläne gewesen sei.

Es geht um das Höchste
Beiden Seiten geht es um das Höchste: um Wahrheit und Ehre. Beide Seiten versuchen, ihre jeweilige Sicht der Geschehnisse oben am Nanga Parbat einem Publikum verständlich zu machen, das von den Verhältnissen auf Achttausendern nichts versteht. Da dies auch nach allen Erklärungen, Ablaufschilderungen, Tagebuchauszügen und Lageskizzen unverändert so ist, sind die einzig wirksamen Waffen die Argumente ad hominem. Saler stellt Messner als jemanden vor, der undiszipliniert ist und andere für sich am Berg arbeiten lässt, um Kraftreserven für den Gipfel zu haben, als jemanden, „der von seinem Wesen her keine (…) echte Kameradschaft schließen“ kann. Von Kienlin attackiert ihn als unmoralisch, er habe aus Ehrgeiz und Ruhmsucht die Grenzen „der Fairness, der Rücksicht, des Anstandes, der Loyalität und auch der Pietät“ überschritten. Und Messner sieht seine Kritiker als Neider, die allesamt nicht dort waren, wo er war: „Wer die höchste Wand der Welt durchstiegen hat, muss als Bergsteiger also die meiste Niedertracht ertragen.“ Im Focus Nr. 24/03 vom 7. Juni nennt er seine ehemaligen Bergfreunde Rufmörder und ihre Angriffe „psychische Folter“ – ein starkes Wort für einen Grünen-Abgeordneten*, der eigentlich wissen sollte, was Folter ist. Sachlich kommt bei angestrengter Lektüre und nach mehrfachen Nachfragen nicht viel heraus.

Aus Streit entsteht sozialer Hass
Messner liefert seit 1970 unterschiedliche Versionen des Schlüsseldialogs mit Kuen. Früher legte er nahe, Kuen habe andere (nämlich: Gipfel-)Ziele gehabt, als zu helfen; heute behauptet er, er habe die Notlage Günthers verschwiegen, um Kuen und Scholz nicht zu lebensgefährlichen Hilfsaktionen zu provozieren. Widersprüche und Ungereimtheiten dieser Art (als wären die beiden Bergsteiger nicht „Manns genug“ zu entscheiden, wie sie auf einen Hilferuf reagieren) deuten Messners Kritiker als Hinweise auf etwas ganz anderes, Böses, das verdeckt werden solle. Doch was das ist, bleibt unklar. Ihre „Beweisführungen“ sind zwangsläufig spekulativ und psychologisch wenig einleuchtend.
Eine plausible Erklärung für Messners Verhalten bietet Ralf-Peter Märtin an. Er schreibt: „Was gewesen wäre, wenn sich Messner in dieser Arena des Ehrgeizes und der Eitelkeit dazu entschlossen hätte, Kuen mit allem Nachdruck um sofortige Hilfe zu bitten, lässt sich heute, über dreißig Jahre später, nicht mehr klären. Für Messner hätte es das Eingeständnis des eigenen Scheiterns bedeutet, die Erniedrigung, auf den ihm unsympathischen Kuen angewiesen zu sein.“ Bizarrerweise wird Märtin in der Fehde dem Messner-Lager zugerechnet. Dabei besteht die großartige Leistung seines jetzt erst recht lesenswerten Nanga-Parbat-Buches gerade darin, nachzuzeichnen, wie bergsteigerischer Ehrgeiz und Narzissmus für nationalistische und nationalsozialistische Zwecke, persönliche Wahnsysteme und Größenfantasien dienstbar gemacht wurden. Darin liegen „Wahrheit und Wahn des Alpinismus“ (so Märtins Untertitel) – und das von den Messner-Kritikern Saler und von Kienlin hochgehaltene Kameradschafts- und Naturerlebnis dient, auch wenn es subjektiv erlebt wird, der ideologischen Überhöhung der niederen Triebkräfte und Triebe.
Insofern ist der Zwist der Bergkameraden nicht einmal ein Sonderfall jener von dem Soziologen Georg Simmel 1908 beschriebenen Form des Streits, der das Phänomen des „sozialen Hasses“ gebiert: „So wächst der Streit innerhalb einer eng verbundenen Gruppe oft genug über das Maß hinaus, das sein Gegenstand und dessen unmittelbares Interesse für die Parteien rechtfertigen würde; denn an dieses heftet sich jetzt noch das Gefühl, daß der Streit nicht nur eine Angelegenheit der Parteien, sondern der Gruppe als ganzer ist, daß jede Partei sozusagen in dem Namen dieser kämpft und in dem Gegner nicht nur ihren Gegner, sondern zugleich den ihrer höheren soziologischen Einheit zu hassen hat.“
Und das ist für Bergsteiger der Berg. Offenkundig wird die Energie, die zum Ersteigen und Überleben aufgewandt wurde, durch das Bergsteigen nicht völlig abgebaut. Reinhold Messner schreibt ein Buch nach dem anderen, um mit dem Nanga und dem Tod seines Bruders ins Reine zu kommen. Mindestens die Alpingeschichte wollen Saler und von Kienlin korrigieren. Und was lehrt uns das? Mögen sie noch so hoch und weit klettern – leider werden sie, wie wir Normalos, auch nicht restlos mit dem fertig, was sie tun. Oder, wie der immer eloquente Messner schreibt: „Jeder steht für sich und der nackte Berg über allen.“

* Reinhold Messner war derzeit Mitglied der Grünen Fraktion im Europaparlament

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT 28 vom 3.7. 2003