Tobias Gohlis über Håkan Nesser: Die Schatten und der Regen


Mörtberg kehrt zurück

Viktor ist ein Mörderkind

Nesser nimmt es ernst

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Håkan Nesser:
Die Schatten und der Regen
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

 

 

Die langen Schatten der Vergangenheit

Soll ein Mord immer aufgeklärt werden? Ja, selbstverständlich. Doch wenn man sich in die Einzelheiten vertieft, verdünnisieren sich die guten Gründe, sie werden flüchtiger. Dem Opfer kann das Leben nicht wiedergegeben werden. Die Verwandten der Ermordeten führen oft den Wunsch nach Vergeltung an, wenn sie unnachgiebig die Todesstrafe für den Täter fordern. Wer Leben nimmt, soll selbst nicht mehr leben dürfen. Doch kann Vergeltung tatsächlich über den Verlust eines Menschen hinwegtrösten? Und wie dringlich ist die Identifizierung und Bestrafung eines Täters, wenn wie in Schweden Mord nach 25 Jahren verjährt?
Auf solche Erwägungen stößt uns Håkan Nesser in seinem jüngsten Roman Die Schatten und der Regen. Doch bevor Nesser in seiner Erzählung auf die zentralen Fragen von Mord und Schuld und Sühne zusteuert, fesselt er die Leser wie es alle guten Erzähler tun, indem er sie so mit den Hauptfiguren vertraut macht, dass sie nicht mehr von ihnen lassen können – und vor allem: ihnen trauen.

Mörtberg kehrt zurück
Da ist zum einen der Ich-Erzähler David Mörtberg. Der Lehrer hat sich für ein Jahr beurlauben lassen. Von Uppsala ist er etwas widerwillig nach K. aufgebrochen, einer kleinen Stadt hoch im schwedischen Norden, in der er seine Kindheit verbracht hat. (K. ist nicht identisch mit Nessers Geburtsort Kumla, obwohl vieles an diesem Roman auf Autobiographisches anzuspielen scheint: So lebt auch Håkan Nesser in Uppsala, war bis 1998 Lehrer und ist 1950 geboren wie sein Erzähler.) Anlass von Mörtbergs Reise in die Kindheit ist ein Brief seiner Schwester, in dem sie ihm mitteilt, dass ihr alter Ziehbruder Viktor Vinblad nach Jahrzehnten der Abwesenheit wieder nach K. zurückgekehrt ist. Doch bevor wir zum anderen nach und nach erfahren, was es mit diesem Viktor auf sich hat, werden wir in Mörtbergs skurrile Lebensumstände eingeweiht. Er hat sich von seiner Frau und von seiner Geliebten getrennt. weil sie beide eine Abmachung nicht eingehalten haben: Sie sind schwanger geworden. Als ihn die Schwester wegen seiner Kaltherzigkeit empört zur Rede stellt, lässt er beiläufig einfließen, dass er einige Wochen vor dem Zeitpunkt der Empfängnis sterilisiert worden war.

Viktor ist ein Mörderkind
Diese kleine Groteske hätte uns warnen müssen. Doch erst zum Schluss der verschlungenen Erzählung begreifen wir, dass das, was dem alltäglichen Menschenverstand einleuchtend scheint, noch lange nicht die Wahrheit sein muss. Der Weg zur Erkenntnis ist gepflastert mit den Erinnerungen an eine Kindheit im hohen Norden: voller Zauber, voller Rätsel und Grausamkeit. Denn Viktor ist ein Mörderkind. Sein Vater hat die Mutter im Suff erschlagen und anschließend sich selbst umgebracht. Mörtbergs Eltern nehmen das Waisenkind auf, und seitdem sind die Schicksale der drei Kinder miteinander verknüpft.
Dieser Viktor, um den sich alles dreht, war einmal ein Pfundskerl. Er konnte Psalmen rückwärts singen, vergaß nichts und fiel als Fünfzehnjähriger, während er gerade dabei war, das seit 328 Jahren ungelöste Rätsel um Fermats letzten Satz aufzudröseln, aus dem Schulfenster. Nach dem Sturz verstummte er. Mit drei anderen Außenseitern war er später auf einem Bauernhof zusammengezogen. Als die geistig etwas zurückgebliebene Mitbewohnerin Sara nackt und erschlagen im Wald gefunden wurde, verschwand er über Nacht und galt seitdem als der Schuldige. Zwei Morde sind in den letzten fünfzig Jahren in K. geschehen, und in beide war Viktor verwickelt. Jetzt sind mehr als 25 Jahre vergangen, der Mord ist verjährt, und Viktor ist von wer weiß woher zurückgekehrt. Wird der Tod Saras aufgeklärt werden? Wie soll Martin mit seinem Ziehbruder umgehen, wenn dieser jetzt den Mord gesteht? Die Rückkehr Viktors erweist sich als Katalysator, doch auf überraschend andere Weise, als man hätte vermuten können.

Nesser nimmt es ernst
Håkan Nesser ist ein Autor, der es mit beidem ernst meint, mit dem Krimi und mit dem Roman. Wie sein deutscher Kollege Friedrich Ani betrachtet er den Kriminalroman als eine Angelegenheit auf und um Leben und Tod, als Struktur der erzählerischen Existenz- und Seelenforschung. In diesem Fall, der keinen Ermittler und nur die skeptische Besinnung einiger älter gewordener Menschen auf die Zufälle und Verstrickungen ihrer Biografie kennt, bleiben keine losen Fäden über, wohl aber einige Fragen offen. Gibt es für die Aufdeckung der Wahrheit einen richtigen und einen falschen Zeitpunkt? Wie lebt man unter einem Verdacht, von dem man sich unmöglich befreien kann? Was wird aus einem Leben, das auf einer uneingestandenen Lüge beruht?

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 49 vom 1.12.05