Tobias Gohlis über Astrid Paprotta: Sterntaucher und Mimikry

 





Wer ist nicht intakt?

Kommissarin ohne Vorbild

Eine deutsche Highsmith?

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Astrid Paprotta:
Sterntaucher

Mimikry

 

 

 

 

Manchmal ist Mord einfacher als Leben

Hin und wieder, leider selten, stoße ich auf ein Buch, dessen erste Zeilen mir bereits die skeptischen Runzeln von der Stirn streichen. Nach den ersten Seiten weiß ich intuitiv: Mit diesem Buch wird nichts schief gehen. Hier ist jemand am Werk, der dich sicher durch alle Katastrophen geleitet. So ging es mir mit Astrid Paprottas Sterntaucher. Vielleicht bin ich mit dieser Empfindung allein. Es soll Kollegen geben, die über dieses Buch nicht schreiben mochten. Weil es sie so sehr verstört hat.
Am Beginn steht eine Erinnerung, eine Fotografie. Katja Kammer und ihre beiden Söhne: Eine junge, starke Frau hat die Arme erhoben, als wolle sie die Sterne vom Himmel holen. Hinter ihr winkt Dorian, der ältere Junge. So fröhlich. Robin, der kleinere, ist vom Ausschnitt der Kamera nicht ganz erfasst. Ein Bein ist angeschnitten. Der Mann, der sich an diesen Schnappschuss aus einem verlorenen Kinderglück erinnert, liegt auf dem Friedhof. Neben ihm eine Leiche, behutsam mit einem Mantel zugedeckt. Der Mann, der sich erinnert, ist der Streifenpolizist Dorian Kammer. Später erfahren wir, dass der Todesfall, zu dem ihn ein Notruf geholt hat, sein Bruder war.

Wer ist nicht intakt?
Ein Krimi muss auf den ersten Seiten fesseln. Astrid Paprotta eröffnet die Szene mit Bildern, die nicht wie üblich, nach den Regeln filmischer Aktion verknüpft sind, sondern nach denen der psychischen Konstruktion. Verletzte, gestörte Seelen verknüpfen ihre Bilder über den Abgründen des Albtraums, machen Schnitte, mit denen sich das Gedächtnis vor der Erinnerung schützt, erfinden die lebenserhaltenden Tricks des Verdrängens. Mit dem angeschnittenen Bein und den beiden Brüdern auf dem Friedhof werden Motive gelegt, die den Roman tragen, bis zum bitteren unvermeidlichen Ende. Das naheliegende ist das der unvollständigen Persönlichkeit. Doch welche Person ist es, die nicht intakt ist? Nur der kleine Robin, der nun als erster tot gefunden wurde? Ina Henkel, die Kriminaloberkommissarin, die den Todesfall untersucht, findet niemanden in der Geschichte dieser Familie, der nicht zerstört wäre: durch Drogen, Erpressung, Missbrauch, Pornographie, Sadismus, Ausgesetztsein.
Das abgeschnittene Bein weist auch auf eine Geschichte außerhalb des abgebildeten Ausschnitts. Die Familie aus Mutter Katja, die eine bekannte Sängerin war, den beiden Jungen und dem Fotografen ist kurz nach dieser Aufnahme zerfallen. Der Fotograf starb an einer Überdosis, das Dorf, in dem sie lebten, stieß die Übriggebliebenen aus, die Karriere der Mutter zerbrach, die Jungs landeten bei Pflegeeltern. Danach sind die drei Überlebenden nur noch unter Bedingungen zusammengekommen, die sofortiges, absolutes Vergessen verlangten, wenn sie weiter leben wollten. Doch auch das ist nicht lange gelungen.

Kommissarin ohne Vorbild
Kriminaloberkommissarin Ina Henkel (die hier in ihrem zweiten Roman ermittelt) begreift die beiden Jungen kaum, weder den toten Robin noch den wie tot herumirrenden Dorian. Fasziniert ist sie von der Mutter, die eine großartige Frau gewesen sein muss. Ina glaubt, die Verschwundene wiederfinden oder zumindest rächen zu können. Ina Henkel ist eine Kommissarin ohne Vorbild: eine horoskopsüchtige Bildzeitungsleserin, getrieben und zerstört zugleich vom Mitleid, das die Toten bei ihr wecken. Ina hasst Mörder, verabscheut Gewalt, weil sie die zerstörten, vergammelten Menschenreste nicht mag, die sie tagtäglich untersuchen muss. Ihre Erkenntnismittel sind Einfühlung, Intuition, das Gespür für die Abgründe, aus denen Morde begangen werden. Am Ende ihrer Aufdeckungsarbeit kommt ihr - und uns - Tötung als die einfachste, ja einzige menschliche Lösung aller Verstrickungen vor.

Eine deutsche Highsmith?

Astrid Paprotta hat schon mit ihrem ersten Krimi Mimikry (1999) Aufsehen erregt. Sterntaucher ist noch besser. In ausgefeilten, raffiniert Innen und Außen, Realität und Einbildung verwirrenden Inneren Monologen der Protagonisten treibt sie die Geschichte voran, dreht sie wie eine Selbstbohrschraube immer unlösbarer in die - zwangsläufige - Katastrophe hinein. Das, was so mancher Kritiker hilflos mit der Floskel "schier unerträglich" belegt, ist Paprottas psychologisch glaubwürdige, weil sprachlich durch und durch gelungene Schilderung von Charakteren, die von der Machtübernahme durch ihre Wahnvorstellungen bedroht sind. Selten hat ein Autor oder eine Autorin den Wahn, eine der unbegreiflichsten Triebkräfte des Mordens, so überzeugend gestaltet. Wenn nicht alles täuscht, ist Astrid Paprotta eine deutsche Nachfolgerin der großen Patricia Highsmith.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 18/02

Siehe auch: Tobias Gohlis über Astrid Paprotta „Feuertod“

Siehe auch: Tobias Gohlis über Oliver Bottini und Astrid Paprotta