Tobias Gohlis über Ian Rankin: Die Seelen der Toten


Oben und unten

Ein Serientäter als Teufel im Kasperltheater

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Ian Rankin:
Die Seelen der Toten

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini

 

Ian Rankins Tote Seelen

Was hat wohl die Verantwortlichen im Goldmann-Verlag geritten, als sie entschieden, Ian Rankins zehnten Roman um den Edinburgher Detective Inspector John Rebus wie einen Durchschnittskrimi Die Seelen der Toten zu nennen? Auf Englisch heißt er Dead Souls und spielt damit deutlich auf Gogols satirischen Roman Die toten Seelen an. Darin versucht der Schwindler Cicikov, mit dem Aufkauf von Abgabenschulden für verstorbene Leibeigene - tote Seelen eben - reich zu werden. Auf seiner betrügerischen Akquisereise durchs Zarenreich stößt der wendige Unternehmer auf eine ganze Klasse toter Seelen: auf die parasitären Existenzen des grundbesitzenden Landadels.


Oben und unten

Um diese Art von toten Seelen dreht sich auch die doppelt verzwirbelte Handlung bei Rankin. Seine Rebus-Romane sind Puzzleteile eines großen literarischen Porträts der schottischen Hauptstadt. Oben und Unten sind vom ersten Satz an die Dimensionen, zwischen denen sich die Handlung von Dead Souls entwickelt. Oben: Das sind die wie ein düsterer Vorhang über der Stadt hängenden Basaltklippen der Salisbury Crags, von denen eines nachts DI Jim Margolies springt, stürzt, fällt. Unten: Das ist die Großbaustelle des neuen, endlich der britischen Übermacht abgetrotzten schottischen Parlaments, das ist die Sozialsiedlung „Greenfield“, die in Wirklichkeit Dumbiedykes heißt. Dort hat die Sozialbehörde kürzlich den nach einer Haftstrafe entlassenen Pädophilen Darren Rough einquartiert. Rebus, ganz der Terrier, hetzt sofort eine Pressemeute auf ihn. Mit dem Ergebnis, dass ausgerechnet die übelste Kriminellenfamilie der Siedlung eine Anti-Kinderschänder-Bürgerwehr aufzieht. Die Lage spitzt sich mehrfach zu. Erst verschwindet aus Greenfield ein Kind, dann wird Rough erschlagen.

„Greenfield“ (Foto: Tobias Gohlis)

Ein Serientäter als Teufel im Kasperltheater
Außerdem ist noch der verurteilte Mehrfachmörder Oakes, aus der Haft in den USA entlassen, in seine Heimatstadt Edinburgh zurückkehrt. Während Oakes wie der Teufel im Kasperltheater Presse auf Presse und Polizei auf Polizei hetzt, Spuren verwischt und Zwietracht sät, sucht Rebus nach dem verschwundenen Kind, nach dem ebenfalls verschollenen Sohn einer Schulfreundin und nach der Wahrheit über den Tod seines von den Crags gesprungenen Kollegen. Und stößt auf ein anderes Unten und Oben. Vor Jahren wurden in einem Kinderheim Kinder missbraucht, misshandelt und gequält. Jetzt stehen zwei der Täter vor Gericht, Rebus jedoch sucht nach einem geheimnisvollen Dritten - und wird fündig unter den angesehensten Familien der heuchlerischen Stadt. Überall und in allen Gesellschaftsschichten stößt er auf tote Seelen neuer Art: auf Menschen, die, obwohl erwachsen, zwanghaft auf den an ihnen begangenen Mißbrauch reagieren: mit Mord, mit Selbstmord, mit abgründiger Verzweiflung. Sie sind allesamt im Kindesalter und auf Lebenszeit buchstäblich Leibeigene ihrer Vergewaltiger geworden - über deren Tod hinaus. In Die Seelen der Toten gerät Rebus in ein Gewissensdrama, und er kommt ins Grübeln. An seiner persönlichen Geschichte (weite Reisen führen zurück in die Jugendzeit im Bergarbeitergebiet Fife, wo auch Rankin aufwuchs) und der der Täter stellt sich ihm die alte protestantische Frage: Was ist vorherbestimmt, was Schicksal?

Veröffentlichung als Krimitipp des Monats Juni bei ARTE

Siehe auch: Tobias Gohlis über Ian Rankin Das Puppenspiel

Siehe auch: Tobias Gohlis über Ian Rankin Das Souvenir des Mörders

Siehe auch: Tobias Gohlis im Gespräch mit Ian Rankin über Im Namen der Toten