Tobias Gohlis über die Lust am Reisen


 

 

 

Geheimnis der Reiselust

Reisen, Erzählen, die Welt erklären – das war einmal eins. Als sich homo sapiens sapiens vor rund hunderttausend Jahren aufmachte, die Erde zu besiedeln, benutzte er keine Reiseführer. Um das nötige Orientierungswissen von Generation zu Generation weiterzureichen, wurde erzählt. Wegstrecken verwandelten sich in Strophen, Bodenbeschaffenheit in Rhythmen, Winde in Melodien. Hindernisse mussten überwunden werden, und die, die vorangingen, wurden Helden.
Spuren jener frühen Wanderungsliteratur waren vielleicht noch in den Gesängen enthalten, mit deren Hilfe sich polynesische Navigatoren Strömungen, Windrichtungen oder Sternenbilder vergegenwärtigten, um über die Leere des Pazifiks zur nächsten winzigen Insel zu gelangen. Die Urliteratur war Kosmologie, Heldengesang, Wegbeschreibung, Gebet, Traumerzählung und Marschlied in einem. Noch die Odyssee, an dieser Vorgeschichte gemessen ein wirklich junger Text, kann benutzt werden als Navigationsanweisung durch das Mittelmeer.
Wer heutzutage am Flughafenkiosk schnell noch einen Reiseführer einsteckt, wird sich diesen menschheitsgeschichtlichen Zusammenhang kaum vergegenwärtigen. Und doch steckt noch im simpelsten Pocketreiseführer die kollektive Erinnerung an die Zeiten großer Wanderung. Das ist nicht Biologie, Bruce Chatwins Glaube an ein Wanderungsgen war gewiss Unsinn. Es ist Kulturgeschichte. Allerdings hauptsächlich die unserer jüngeren, schriftlich vermittelten Reisekultur.
Der Traumstrand und das Urlaubsparadies sind als Sehnsuchts- und Erlösungsziele nicht allzu weit von jenem Heiligen Land entfernt, auf dessen Boden im vierten Jahrhundert nach Christus die galizische Nonne Egeria von frommen Gästeführern den Dornbusch gezeigt bekam, aus dem Gott mit Mose gesprochen hatte, und den Stein, aus dem er Wasser schlug. Hier wie dort geht es um Erlösung – nur die Bezeichnungen und historischen Bezüge haben sich geändert. Sammelte Egeria Reliquien und gewann Sündenablass durch das Gebet an heiligen Orten, so kauft der heutige Tourist Souvenirs und gewinnt inneres Gleichgewicht im Wellnesshotel oder beim Mountainbiking. Baedeker-Sterne, Insider-Tipps oder Autorenempfehlungen gibt es auch, seit es Bücher gibt. Die Formel „Ich habe selbst gesehen, was ich euch beschreibe“ diente schon dem Historiker und Spion Herodot vor 2400 Jahren zur Steigerung der Neugier seiner Leser, sie weckte im Mittelalter Reiselust und tut es heute nicht minder.
Alles beim Alten also? Nicht ganz: in den Reiseführern von heute schlagen sich entwickelte Arbeitsteilung und Zeitdruck einer ökonomisierten Gesellschaft nieder. Es gibt keine Helden mehr, nur noch Reiseleiter. Phantastische Erzählungen kommen als Romane oder Filme daher. Aus den Erzählern, die ihre Gäste am Feuer mit Geschichten unterhalten, sind Dienstleister geworden. Als Reiseliteraturautor sorgen sie dafür, dass möglichst jede Info, die der Tourist in den schönsten Tagen des Jahres braucht, auf einer begrenzten Zahl von Seiten als Kurztext, Tipp, Adresse oder Minireportage so vermerkt ist, dass es schnell gefunden werden kann. Und doch bleibt das Geheimnis erhalten. Auch wenn es hinter all den Tipps, Lesehilfen und Kartenverweisen, die einen modernen Reiseführer so ungemein praktisch und phantasiearm machen, nicht immer zu erkennen ist. Es lautet: Erfahrung gewinnt man jenseits der Bücher. Mit Neugier.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in der Sonderausgabe des Kölner Stadtanzeigers zum 200. Geburtstag des Verlages DuMont-Schauberg 10.6.2002