Tobias Gohlis über Ruth Rendell: Ein Ende mit Tränen und Barbara Vine: Aus der Welt






Immens produktiv seit 1964

Begegnung mit einer Legende

Ende mit Tränen

Barbara Vine — die schlauere Version?

Seelenerschütternd, hirnerregend

_____

Barbara Vine:
"Aus der Welt" (Originaltitel: "The Minotaur" 2005),

Aus dem Englischen von Renate Orth-Gutmann

_____


Ruth Rendell: "Ein Ende mit Tränen" (Originaltitel: "End in Tears" 2007)

Aus dem Englischen von Eva L. Wahser

 

 

Why done it?

Unermüdlich auf der Suche nach den Quellen der Verbrechen: Ruth Rendell und Barbara Vine.

Wohl kaum eine Autorin hat den oft inflationär gebrauchten Ehrentitel „Queen of Crime“ so sehr als verdient wie die britische Schriftstellerin Ruth Rendell alias Barbara Vine. Eine Hommage aus gegebenem Anlass. Vermutlich kann die 1930 als Ruth Barbara Graseland geborene Ruth Rendell selbst nicht mehr ganz exakt sagen, wie viele Kriminalromane und -geschichten sie eigentlich geschrieben hat. Als ich mit Hilfe der wohl kompetentesten deutschen Internetquelle www.kaliber38.de 62 Romane zusammengezählt hatte und meine eher mageren Bestände prüfte, entdeckte ich einen Titel, den der fleißige Dokumentar nicht erfasst hatte. Wenn man die Baroness Rendell of Babergh – so heißt sie seit ihrer Nobilitierung 1997 – besucht und um ein signiertes Buch bittet, simuliert die sonst sehr zurückhaltende Dame mildes Entsetzen, öffnet diverse Truhen und Schränke und fragt: „Welches? Ich habe so viele Bücher von mir! Und in meinem Landhaus in Suffolk noch mehr.“ Und dann beginnt sie einige der 33 Sprachen aufzuzählen, in die ihre Romane übersetzt sind: Koreanisch, Lettisch, Estnisch, Finnisch …

Immens produktiv seit 1964
HIns Deutsche natürlich auch, wobei sich hier drei Verlagsgruppen ihrer immer noch immensen Produktivität annehmen: Die als „Ruth Rendell“ veröffentlichten Romane mit Inspektor Reginald Wexford (fiktiver Schauplatz: Kingsmarkham, Sussex) und die sogenannten Stand-Alones sind früher bei Rowohlt erschienen, jetzt bei Blanvalet und Goldmann, ihre von „Barbara Vine“ verfassten bei Diogenes. Zwei bis drei Lesergenerationen sind mit ihr aufgewachsen, seit sie 1964 ihren ersten Wexford-Roman veröffentlicht hat. Der Grund, jetzt ihre jüngsten Bücher in die Hand zu nehmen, war ein Hausbesuch bei ihr für ein Fernsehporträt, das irgendwann im Herbst unter dem Label crime time beim ZDF-Infokanal erscheinen wird.

Begegnung mit einer Legende

Der Besuch in Paddingtons Little Venice war ein Ereignis: Es fällt einen doch ein Hauch von Beklommenheit an, wenn man mit einer lebenden Legende zusammentrifft. Umso herzlicher fiel dann die Begegnung aus. Die –allerdings meist von Kolleginnen– als eher zurückhaltend bis unwirsch porträtierte 78jährige Dame empfing uns sehr freundlich, erlaubte, das riesige grüne Sofa in ihrem Salon zu verrücken, posierte bereitwillig tippend an ihrem Laptop und mokierte sich über den Formalismus deutscher Journalisten, die sie mit Lady Rendell ansprechen statt mit Ruth. Eine Überraschung also.

Ende mit Tränen

Noch größer war die Überraschung bei der Lektüre. Während Ruth Rendell Berge von Taschenbüchern mit ihrem eben erschienen letzten Wexford-Roman Not in the Flesh zum Signieren auf dem Tisch hatte und ihr jüngster Barbara Vine The Birthday Present erst Ende August in London erscheinen wird, haben wir es hier mit Vorgängern zu tun. Ein Ende mit Tränen (original 2005: End in Tears), klassischer Wexford, erscheint dieser Tage. Darin wird, umrahmt von rätselhaften, ja unbegründet erscheinenden Morden an zwei Zwanzigjährigen, thematisch die Sehnsucht der Frauen variiert, unbedingt ein Kind in die Welt setzen zu wollen. Eine Manie, die alle Jahrgänge in Kingsmarkham befällt. Deshalb sind auch die Maßnahmen, die zu ihrer Verwirklichung ergriffen werden, desto drastischer, je näher die Menopause heranrückt. Liegt in diesem eher konventionellen und manchmal auch ein wenig klapprigen, aber wie immer bei Rendell nicht auf das Who, sondern auf das Why done it konzentrierten Roman der Witz in der Absurdität dieses mütterlichen Kampfes um Kinderwunscherfüllung, ist in Aus der Welt (original 2005: The Minotaur) die volle Kunstfertigkeit dieser Autorin entfaltet.

Barbara Vine — die schlauere Version?

1986, nach 22 Jahren erfolgreicher Schreibarbeit, so erzählt Ruth Rendell, kam sie ins Stocken. Sie hatte ein Thema am Wickel, das erst dann Gestalt annehmen konnte, als sie sich selbst in „Barbara Vine“ verwandelt hatte. Das Verblüffende, das sie selbst auch nicht erklären kann oder will: Beide Personalisierungen der Autorin schreiben en markantes, präzises Englisch, aber Barbara Vine unendlich elaborierter und durchtriebener. Ich gestehe: Während mir die Tragikomik des Kingsmarkhamer Kinderwunsch- und Leihmutterschaftsfalles erst nach und nach aufging, war und bin ich ein Vine-Fan von der ersten Zeile an. Wie oft, so greift Vine auch in Aus der Welt weit in die Vergangenheit zurück. Kerstin Kvist, schwedische Studentin, soll in einem einsam gelegenen Landhaus der Familie bei der Krankenpflege helfen. Es ist Ende der 60er Jahre, und all die Errungenschaften, die sich die Frauen in den Städten (und besonders in Schweden, das damals als das sexuell freizügigste Land Europas galt) erkämpft hatten, sind in dieses Kaff und in dieses, mit wildem Wein wie einem Keuschheitsgürtel über und über bedeckten Haus nicht vorgedrungen.

Seelenerschütternd, hirnerregend

Hier herrscht unumschränkt, mit sadistischer Lust an der Erniedrigung, Mutter Julia Cosway über ihre drei unverheirateten Töchter, alle gut in den Dreißigern, und ihren 39jährigen Sohn. Der ist der zu betreuende Fall. Kaum ansprechbar, meist schläfrig durch Psychopharmaka, schleppt er sich durch den Tag. Nur manchmal wirft er sich schreiend auf den Boden oder verkriecht sich hinter dem Sofa. Schon bald schwant der modernen Schwedin Schlimmstes. Doch es bedarf schon einer langen, wendungsreichen Aufklärung, bis ihr und dem Leser wirklich klar wird, in was für ein Rattennest von Missgunst, Neid, Erniedrigung und Destruktion sie im Wunsch zu helfen, geraten ist. In gewisser Weise war sogar erst der Abstand von vierzig Jahren, aus dem erzählt wird, notwendig, um zu verstehen, was damals geschehen ist. Vines Kunst liegt in der langsamen, vivisektorischen Entfaltung und Aufdröselung destruktiver Beziehungen. So genau beobachtet ist das, dass der Leser glaubt, in ein Panorama ausgesuchter seelischer Grausamkeiten geraten zu sein. Formeln wie die von der „tödlichen Bemerkung“,von „Blicken, die töten können“, gewinnen in Vines Szenen und Dialogen wieder ihre ursprüngliche Bedeutung. Das Blutgespritze und Gemetzel, mit dem neuerdings allzu häufig in schlechten Krimis Gewalt ausgedrückt werden soll, braucht Barbara Vine nicht. Sie weiß, dass die Gewalt aus der alltäglichen Verletzung, aus der emotionalen und intellektuellen Unmündigkeit einzelner Menschen und der Unfreiheit ihrer sozialen Situationen stammt. Und kann das Beschreiben. Ganz und gar seelenerschütternd und hirnerregend. Meisterhaft.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung Buchtipp der Woche am 14.8.2008 bei Arte.tv