Tobias Gohlis über Manuel Vázquez Montalbans Barcelona



Der Süden, der Traum:
die Stadt

Barcelona lockt Geld, Träume und Verbrechen an

Pepes Quartier

garantizado macho

Südseeträume im Barrio Chino

Geboren, um das Inferno umzustürzen

Charos Revier

Letzte Ausfahrt Tunis

Den Tibidabo hinauf

Eine andere Stadt

Carvalhos Haus

 

 

Zum Hafen hinab und den Tibidabo hinauf

Eine Reise zu Manuel Vázquez Montalban und seinen Figuren im Oktober 1991

Das ist Tahiti.
In einem dieser Kolosse aus Klinker und Stahlbeton hatte Stuart Pedrell Unterschlupf gefunden. Von einem Tag auf den andern hatte der mächtige Manager Villa, Klassefrau, Hochglanzgeliebte und Büro verlassen. Zurück blieb ein unbenutztes Weltreiseticket. In dem monströsen Vorort Barcelonas, bei dessen Schnellbetonbau er Millionen gemacht hatte, nahm er den Namen Porqueres an: Warum existierst du. Hier war sein Tahiti, und er lebte eine Zeit wie Gauguin in seiner Südsee. Er jobbte als Buchhalter und tat sich mit einer Eingeborenen zusammen, die bei SEAT arbeitete und für die Comisiones Obreras agitierte. Doch niemand verlässt seine Welt, ohne dafür zu bezahlen.
Die Fenster des Vorortzuges vom Flughafen in die Stadt sind orange getönt. Sie geben der draußen vorbeigleitenden Siedlung die Farbe von Messing. Auf dem Hinterhof einer Fabrik mit eingeschlagenen Fenstern rosten Drahtrollen in einem weichen Gelbton vor sich hin. Zwei Frauen in hochhackigen Schuhen überklettern vorsichtig die Bahngleise. Fußgängerüberwege gibt es nicht.

Der Süden, der Traum: die Stadt
Bei Pedrells Leiche fand die Polizei einen Zettel. "Piú nessuno mi porterá nel sud" stand darauf, ein Vers des italienischen Lyrikers Salvatore Quasimodo, wie geschaffen für den Tod in der Suburb: "Mich bringt keiner mehr in den Süden".
Die Digitalanzeige über der Waggontür zeigt die Uhrzeit, die Außentemperatur und die nächste Station an. Die Gastarbeiterfamilie aus Perpignan, die mir gegenüber hinter einem Berg von Koffern sitzt, teilt sich die entzifferten Zeichen mit: "17 Grad, oho! Nicht schlecht! Nächste Station: Sants!" Am Flughafen waren sie erschöpft und verwirrt gewesen. Doch jetzt haben sie sich entspannt."Du bist doch der Kiki von Barcelona", ruft Mutter und pufft ihn am Oberschenkel. Kiki wölbt die Brust. Der Süden hat sie wieder.
Wie diese Leute kam auch Don Jesús aus seinem Pyrenäendorf in die Stadt. Alles, was du dir vorstellen kannst, existiert auch, dachte er, als er auf der Plaza Catalunya stand. Es existiert in Barcelona. Für Don Jesús wurde es die Hölle. Eigentlich wollte er nur nach dem Rechten sehen und die Hinterlassenschaft seiner verstorbenen Schwester ordnen. Doch auf der Suche nach seinem Schwager geriet der unbeholfene Mann vom Lande in einen Hexenkessel von Drogenhandel, Prostitution und Gewalt, aus dem er nur herauskam, indem er ein paar Gangster vom Dach eines Hochhauses warf.

Barcelona lockt Geld, Träume und Verbrechen an
Die katalanische Metropole zieht das Geld, die Träume, das Verbrechen an. Und ich stehe hier wie Don Jesús mit meinem Koffer verwirrt im Zentrum der Stadt, starre auf die Schwärme von Tauben, rieche das billige Parfüm, das sich die Männer zum Feierabend auf die Jacken gesprüht haben. Der Geruch Barcelonas. Mein Vorhaben, dieses wahnwitzige Chaos aus hupenden Autos und stinkenden Mofas mit ein paar Krimis in der Hand zu erschließen, kommt mir grotesk vor. Tahiti liegt bei Barcelona, Don Jesús in der Hölle - pseudopoetische und pseudodramatische Romantitel, mehr nicht.
Aber Bromuro, den alten Schuhputzer, würde ich gerne kennenlernen. Drüben, auf der anderen Seite der Plaza Catalunya, leuchtet die blauweiße Markise des "Café Zürich", wo auch der verwöhnte Gourmet Pepe Carvalho seinen Kaffee trinkt. Und gegenüber beginnen die Ramblas, eine der schönsten Straßen der Welt. Dort hat Carvalho seine Detektei.

Pepes Quartier
Carvalhos Büro liegt in einem alten Gebäude, das einst die Huren der Madame Petula beherbergt hatte. Rechtsanwälte, ein Korsettvertrieb, ein Journalist, der sich den ganzen Tag im Nuttenviertel herumtreibt und davon träumt, den realistischen Großstadtroman zu schreiben. Es besteht aus einem Appartement, das keine 30 Quadratmeter einnimmt. Der Büroraum ist grün tapeziert und mit Möbeln aus den vierziger Jahren bestückt, daneben gibt es noch eine kleine Küche und die Toilette.
Auf dem Flur haust Biscuter in einem Verschlag zwischen Pornoheften und Kochbüchern. Die beiden haben sich vor 30 Jahren im Knast kennengelernt. Carvalho saß wegen Politik, Biscuter wegen Diebstahl. Biscuter, ein blonder, aber kahlköpfiger Gnom, putzt, erledigt die Botendienste und liebt es, wie ein Motorrad brummend durch die Gegend zu sausen, wenn er melancholisch ist.
Carvalho hat alles hinter sich: Er war Kommunist, CIA-Agent, Literat. Jetzt verheizt er seine Bücher im Kaminfeuer und hat nur noch das Ziel, seine Schulden zu bezahlen. Geld verdient er wie alle Detektive in Barcelona mit Ermittlungen gegen untreue Ehepartner und dem Ausspionieren von Wirtschaftsgeheimnissen. Er ist eben ein huelebraguetas, ein Hosenschlitzschnüffler. Einmal im Jahr, oft in der kühleren Jahreszeit, hat er einen großen Fall. Aufgewachsen ist er in der Calle Aurora, im Barrio Chino. Diesen Teil der Altstadt meiden die Touristen. Sie ziehen das weniger heruntergekommene Barrio Gótico auf der anderen Seite der Ramblas vor, wo die Kathedrale und die alten Adelspaläste liegen.

garantizado macho
Auf dem Weg zum Barrio Chino schlendere ich die Ramblas hinunter. Auf dem Paseo, dem breiten Fußgängerweg in der Mitte, ist es ruhiger als im Sommer. Die Verkäufer in den Zeitschriftenbuden haben dicke Wolljacken an und mehr Pornographie als Belletristik in der Auslage. Pepe Carvalhos Abenteuer sind in einer neuen Ausgabe zu haben. Das Foto von Manuel Vázquez Montalban, seinem Erfinder, blickt düster vom Einband auf den Leser.
Bromuro, der Schuhputzer, ehemalige Fremdenlegionär und Informant Carvalhos ist an diesem Nachmittag nicht wie sonst auf den Ramblas unterwegs. Ich bewundere einen Gitano-Fakir, der mit verbundenen Augen durch einen engen Ring mit nach innen gerichteten Fleischermessern hechtet. Ein Stück weiter krabbeln kleine grüne Schildkröten in einem Aquarium aufeinander herum, und gegenüber bietet der Vogelhändler zitternde Kanarienvögel an, garantizado macho, die Weibchen singen ja nicht.
In der Boquería, der großen Markthalle, kauft Biscuter die Fisch- und Fleischspezialitäten für die Zwischenmahlzeiten seines Chefs. Nierchen und Kutteln nach durchzechten Nächten, Meeresfrüchte oder eine kleine Tortilla für Tage, an denen viel los ist.

Südseeträume im Barrio Chino
Hinter der Boquería liegt der Gardunya-Parkplatz, wo Marçal das geklaute Auto abgestellt hat, mit dem Marta und er nach Marokko abhauen wollten. Auch so ein Südseetraum.
Sie hatte einfach keinen Bock mehr gehabt auf die literarischen Ficks, mit denen sie für die tägliche Spritze anschaffte. Sie hatten der alten Nutte, die jetzt als Madame Concha eine Pension in der Calle San Rafael mitten im Barrio Chino betrieb, eins übergezogen, um an das Geld zu kommen, das  doch irgendwo versteckt sein musste. Aber sie hatten es nicht gefunden, und auch weiter nichts als Pech gehabt.
Denn als sie ans andere Ende der Stadt in die Umkleideräume der Fußballer vom FC Centellas kamen, war Palacín, der alternde Star des Vereins, den sie ausrauben wollten, gerade totgestochen worden. So kamen sie unter Mordverdacht ins Polizeigefängnis und nicht nach Marokko.
Im Barrio Chino schwitzen die Häuser Geschichte und Gewalt. Anlässlich der Olympiade werden ein paar Breschen in das Labyrinth der Gassen gehauen und offenbaren das neue kalte Barcelona, EG-Mitglied. Um die Casa de la Misericordia, das alte Hospital, wurde so ein neuer Platz geschaffen. Zwischen den hohen, sandstrahlgereinigten Mauern liegt eine weite Fläche aus gelbem Schotter, aus der die Schnorchellüfter der unterirdischen Tiefgaragen ragen. Zwei Jugendliche spuren mit den durchdrehenden Hinterrädern ihrer Mopeds Achten in die Wüste.

Geboren, um das Inferno umzustürzen
Ein paar Straßen weiter zum Hafen hin suche ich die Calle de la Cadena. Im Hinterzimmer des Friseurgeschäfts von Don Ramón hatte Carvalho seinerzeit die Ermittlungen in einem seiner ersten Fälle aufgenommen. Ein Mann war in der Fischervorstadt Barceloneta an Land gespült worden. Auf seine Schulter war der Satz tätowiert: "Ich bin geboren, um das Inferno umzustürzen". Das ist lange her. Von dem Friseurladen ist nur noch die abblätternde Reklameschrift auf einer Hauswand übrig, und die Gesichter der Menschen in der Calle de la Cadena sehen aus, als hätten sie das Inferno schon hinter sich.
Ich halte mich in der Mitte der Gasse, wo noch ein wenig Herbstlicht hinfällt, und hoffe, dass die Gestalten in den Torbögen zu schwach sind, die paar Schritte für den Angriff zu tun. Marçal hatte hier den Tag verdöst, in der kalten Hitze der letzten Dosis, während Marta, Baudelaire murmelnd, für ein Bocadillo und den täglichen Schuss anschaffte. "Wird der Mythos des freien Menschen in der freien Stadt möglich sein? Im Moment wird Barcelona mit jedem Abschnitt, den es in Besitz nimmt, menschlicher", las Carvalho in einem Prachtband, den er in einem der Antiquariate des Viertels gefunden hatte. Biscuter hatte ihm - das war 1988 - die neuesten Gerüchte mitgeteilt: "Passen sie ja gut auf, Chef! Sie wollen das halbe Barrio Chino abreißen, von der Calle Perecamps aufwärts bis dorthin, wo die Oberstadt beginnt, damit die Luft besser zirkuliert. Das stinkt nach Friedhof."

Charos Revier
Biscuter hatte recht: An der Kreuzung Calle de San Ramón/ Marqués de Barberra hat die Abrissbirne einen ganzen Altstadtblock weggeschlagen. Der freie Platz ist Autofriedhof, Drogenumschlag, Armentreff. Ich weiß nicht, welcher Anblick obszöner ist, der des Hochhauses aus den fünfziger Jahren, an dessen grauen Betonfassaden der Rost und der Ruß Tränenspuren hinterlassen haben, oder der der alten Mietskasernen daneben, an denen die Balkons, die Lamellentüren und die schmutzige Wäsche hängen wie hervorgequollene Eingeweide.
In dem Hochhaus könnte Charo ihr Apartment haben, die Geliebte Carvalhos, die schon in den siebziger Jahren den Sprung in den gehobenen Mittelstand geschafft hat. Als teures Callgirl muss sie schon lange nicht mehr auf der Straße arbeiten, wie die dicke Blondine, die soeben mit ihrer Kollegin untergehakt kreischend über die Straße wankt, um sich erst einmal in der Eckkneipe Las Marinas zu stärken. Gleich tut sich die Glastür wieder auf und ein betrunkener Mann wird von zwei anderen aufs Pflaster geworfen. Der Betrunkene will aufstehen und brüllt etwas. Da kriegt er noch ein paar Tritte, bis er still ist. Die Schläger ziehen ihre Hosen wieder auf Sitz und stolzieren an den Tresen zurück. Zwei Männer, die bisher herumgestanden haben, greifen dem Niedergeschlagenen unter die Arme und verschwinden mit ihm hinter einem Lastwagen, wo sie ihm vermutlich das letzte Geld abnehmen.

Letzte Ausfahrt Tunis
Ich habe den Fotoapparat herausgeholt und visiere eine Gruppe von Marokkanern an, die in der Abendsonne steht. Gleich springt einer herbei und warnt: "Achtung, Fotograf!" Ich nehme die Kamera runter, gehe auf sie zu. Ich erkläre mich, aber ihr Sprecher wird nur noch wütender: "Die Fotos von uns, von dem Elend, schüren bei Euch nur die Ausländerfeindlichkeit." In seiner Zeitung ist ein Bild, das randalierende deutsche Skinheads zeigt.
Schließlich darf ich doch ein Foto machen. Es ist meine Arbeit, und sie sind ja auch hier, um zu arbeiten. Barcelona, erzählt einer, der in Tunis Sprachen studiert hat, ist eines der letzten Schlupflöcher für die Arbeitsimmigranten aus Nordafrika. Bald wird der Gemeinsame Markt, der die europäischen Arbeitskräfte privilegiert, sie vertreiben. Was dann? Achselzucken.
Ein Spaziergang die Ramblas hinunter führt immer ans Meer. Doch ich komme nicht hin. Dort, wo die Ramblas auf den Passeig de Colom stoßen, ist die Welt mit Brettern vernagelt. Lattenzaunwände sperren den Zugang zum Hafen und zu der Verkehrsinsel, auf der die Columbussäule steht.
Ich hätte gerne die Santa María betrachtet, die pittoreske Fälschung, die man den Touristen als Columbus' Karavelle ausgibt. Aber das Hafenbecken und die Molen werden für die Olympiade hergerichtet - ein Tohuwabohu aus Brettern, schweren Lastern und Staub. Wieviele Leichen werden da den "Spielen der Jugend der Welt" in den Keller gepackt?
Alberto Palacín, den sich der Vorstadtverein FC Centellas gekauft hatte, weil es vordergründig um den Klassenerhalt des Vereins und tatsächlich um Bodenspekulation ging, war für dieses Spiel zu alt und kam darin um. Sieger im Kampf um die Grundstücke des Olympischen Dorfes wurden die Drahtzieher im Hintergrund, die Bosse des FC Barcelona, die großen Bodenspekulanten. Aber was hatte Carvalho davon, wenn er ihre Namen und Intrigen, ihre Mordpläne und Heucheleien aufdeckte, herausfand, wer den Schuss aus dem Hinterhalt befohlen hatte? Nichts war von der Landschaft seiner Kindheit übrig geblieben.

Den Tibidabo hinauf
Ich kehre um, wieder die Ramblas hinauf. Auch an der Plaça del Teatre, seinem Stammplatz, ist Bromuro nicht zu finden. Der Schuhputzer hatte schon vor vielen Jahren entdeckt, dass die Stadtverwaltung dem Trinkwasser Brom zusetzte - damit hier keiner mehr einen hochkriegt. Irgendein Bürokrat musste von der Gefängnisaufsicht gelernt haben, dass Brom beruhigt. Vielleicht wissen Bromuros Kollegen etwas über seinen Verbleib. Zwei Seitenstraßen weiter finde ich einen Schuhputzsalon, aber auch dort hat niemand den alten Knaben gesehen.
Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Weg nach Vallvidrera. Denn Carvalho ist ein geographischer Ästhet und hat sich auf dem Höhenzug oberhalb der Stadt gleich nach seiner Rückkehr aus den USA, nach Kennedys Ermordung, einen Bungalow gemietet. Hierher zog er sich zurück, wenn ihm die Welt da unten zu schmutzig wurde.
Ich nehme die U-Bahn. Carvalho benutzte sie nur selten. Für ihn war sie wie ein Tier, das sich mit seinem unterirdischen Sklavendasein abgefunden hat. Früher hatte Carvalho mit Geringschätzung auf die eingepferchte Masse geblickt. Heute empfand er nur noch Solidarität und Angst, Solidarität mit den armen Menschen, Angst davor, dass diese banale, fatale Reise für sie alle ins Nichts führen würde.

Eine andere Stadt
Wenn man an der Station Peu Funicular aussteigt, von wo die Zahnradbahn sich den steilen Hang von Vallvidrera hocharbeitet, befindet man sich in einer anderen Stadt. Villen aus den zwanziger Jahren ruhen elegant zwischen Pinien. Man meint, überall Chopin-Etüden zu hören. Ich setze mich erst einmal auf eine Bank an dem kleinen Platz der Passage Santa Amelia. Ein schmächtiger grauer Kater sucht meine Gesellschaft. Kaum vorzustellen, dass in einer der schläfrigen Villen da drüben die steinreiche Doña Encarnación Rodriguez de Montiel ein Bordell betrieb, um die Schattenseiten ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Carvalho wurde in ihrem Garten, es war der Fall der Rose von Alexandria, von zwei Polizisten zusammengeschlagen.Ich kann nicht verstehen, warum Carvalho immer das Auto benutzte, wenn er in die Stadt fuhr. Das Ruckeln und Knarren der Zahnradbahn hat etwas von den mechanischen Glücksversprechen der Spieluhren und Karusselle. Und oben in Vallvidrera tritt man durch das Jugendstilportal des Bahnhofs auf einen wunderschönen kleinen Platz. Hier gibt es das, was die Barceloneser am meisten lieben: frische Luft und kostenloses Trinkwasser aus einem Wasserspender.
Wo könnte Carvalho wohnen? Ich trinke erst einmal einen Kaffee in der Granja, der Milchbar, bevor ich mich auf die Suche mache. Nichts überstürzen. Die Hektik ist unten in der Stadt geblieben. Dann gehe ich los, die Straße zum Tibidabo entlang. Das ist der Nachbarhügel von Vallvidrera mit seiner wunderkitischigen Kirche Sagrado Corazón, dem heiligen Herzen, der Jesus-Statue und dem Vergnügungspark, von dem aus man den schönsten Blick auf die Stadt hat, wenn der Smog ihn mal freigibt.

Carvalhos Haus
Und irgendwo an dieser Straße finde ich tatsächlich das Haus Carvalhos, das, wer hätte es auch anders gedacht, das seines Chronisten ist. Sein deutscher Verlag hatte mir zwar die Adresse gegeben, aber auf kastilisch, während mein funkelnagelneuer Stadtplan aus Deutschland ganz regionalbewusst die Straßen nur mit ihrem katalanischen Namen kennt.
Es ist einfache Detektivarbeit. Ich muss nur die alte Frau in der Granja fragen. "Señor Vázquez, ja klar kenne ich den. Der wohnt hier gleich die Straße rauf." Señor Vázquez ist leider nicht zu Hause. Ich lerne nur die Haushälterin und die freundliche Hündin Bleda kennen.
So wandere ich weiter, hinüber zum Tibidabo, und denke an all die Leute da unten in der Millionenstadt, an den einsamen Manager Stuart Pedrell, an die Junkies Marta und Marçal, an Concha und Charo, an die Schwindler, Spekulanten und Träumer. Und an Bromuro, der es einfach nicht mehr geschafft hat. Er starb hier oben in Carvalhos Haus. Biscuter und Charo waren bei ihm. Aber Carvalho war beinahe zu spät gekommen, weil er die Witwe des ermordeten Fußballspielers Palacín am Flughafen sehen wollte.
Der Fußweg über den Bergkamm zum Tibidabo ist unterbrochen. Auf der Spitze des Berges wird der neue TV-Sendeturm errichtet, der die Jesus-Statue mit den ausgebreiteten Armen als Wahrzeichen der Stadt ablösen wird. "Ich muss zum Hafen hinab/ und auf den Tibidabo hinauf ..." hatte Carvalho geträllert, als er noch jung war. Hier oben hatte er verstehen gelernt, was die Stadt seiner Kindheit war: Zu alt, zu weise, zu zynisch, um erreichbar zu sein für Hoffnung irgendeiner Jugend, der gegenwärtigen oder der zukünftigen.


Nachbemerkung:
Die kursiven Textstellen entstammen den Kriminalromanen Tahiti liegt bei Barcelona, Schuss aus dem Hinterhalt, Die Rose von Alexandria und Carvalho und die tätowierte Leiche von Manuel Vázquez Montalban sowie aus Andreu Martíns "Don Jesús in der Hölle".
Die Reise nach Barcelona fand Oktober 1991 statt

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 2 vom 3.Januar 1992