Tobias Gohlis über Silvana Schmid: Loplops Geheimnis




Banausentum und Gier

Wenig blieb, kaum einer kommt

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Silvana Schmid: Loplops Geheimnis. Max Ernst und Leonora Carrington in Südfrankreich
anabas Verlag, Frankfurt/Main 2003, 186 S. zahlreiche Abb., 24,90 EUR

 

 

 

Traum-Trümmer aus der Ardèche

Silvana Schmid hat die Geschichte des Hauses rekonstruiert, in dem Max Ernst und Leonora Carrington wohnten

Max Ernst war 47 und bereits der berühmte Surrealist, Leonora Carrington war zwanzig und kochte vor Protest gegen ihr britisches Millionärselternhaus, als sie sich 1937 bei einem Dinner in London kennen lernten. Weder die Tatsache, dass Max Ernst verheiratet war, noch die Prozesse, die Vater Carrington gegen die "pornographische Schmiererei" des Künstlers anstrengte, verhinderten, dass die beiden ein Paar wurden. Wie füreinander bestimmt flogen sie aufeinander zu, tauchten noch kurz in Paris auf, wo Ernst sich von der politpropagandistich gewordenen Surrealistengruppe trennte, und verschwanden in der Provinz.
St. Martin de L'Ardèche war damals ein Dorf mit dreihundert Einwohnern. "L'Anglaise" und "Le Max" machten Furore: tagsüber spazierten sie splitternackt zum Fluss, die Badeanzüge auf dem Kopf, abends ließen sie sich in der Dorfspelunke voll laufen. Sie schrieben und zeichneten zusammen, sie war seine "Windsbraut", er war "Loplop", das geflügelte Fabeltier mit einem Seestern als Geschlecht.
Das fantasmagorische Paar ist noch heute zu besichtigen. Kaum ein Kanut, der sich von St. Martin aus in die Wildwasser der Ardèche stürzen will, wird zuvor den langen steilen Weg zu dem allein stehenden Haus oberhalb des Ortes auf sich nehmen, um es zu betrachten. Leonora und Max erwarben das Bauernhaus 1938, und während die Handwerker aus dem Dorf an der Ruine die notwendigen Installationen anbrachten, machten die liebenden Künstler es bewohnbar. An den Außenwänden brachte er fantastische Reliefs an und besiedelte den Garten mit Fabelwesen, innen bemalte sie Türen und Wände mit Geistern.

Wenig blieb, kaum einer kommt
Erhalten blieb ein großes Relief an der Straßenfront. Es zeigt zwei Figuren. Die männliche besitzt einen doppelten Unterleib: auf einer Wandstütze, aus der oben Hals, Kopf und Arme ragen, tanzt eine kleine, mit Schuppen und Federn geflügelte Figur. Das ist Loplop, der gute Geist Max Ernsts in jenen Tagen. Die weibliche Figur spreizt beschwichtigend-beschwörend die rechte Hand ab, auf ihrer linken hockt ein Zähen bleckender Kobold.
Das Haus in Saint Martin müsste ein Wallfahrtsort aller Kunstliebhaber sein. Warum es das nicht ist, erzählt die Schweizer Journalisten Silvana Schmid in Loplops Geheimnis. Im Kleinen vollzog sich hier ein Paradigma für die Wirren des 20. Jahrhunderts. Nur Ein wenig Ruhe (so der Titel eines Hauptwerks von Ernst aus dieser Zeit) war dem Paar vergönnt, kaum mehr als ein Jahr Liebe und Arbeit. Als Ernst im September 1939 als "feindlicher Ausländer" vom Vichy-Regime inhaftiert und später in das berüchtigte Lager Les Milles gesperrt wird, bricht Leonora psychisch zusammen. Ein Dorfadvokat bietet eigennützig Hilfe an, sie überschreibt das Haus samt Inhalt (darunter die Werke, die sie und Ernst dort schufen, und eine Sammlung mit Arbeiten befreundeter Surrealisten) an eine Gastwirtin, begleicht dadurch ihre Trinkschulden und flieht mit Freunden nach Spanien, wo sie auf Betreiben ihres Vaters in einer Psychiatrie interniert wird. 1945 erschien ihr bestürzender Bericht Unten, in dem sie den Horror dieser Zeit festgehalten hat. Später gelingt beiden Künstlern auf unterschiedlichen Wegen die Flucht in die USA.

Banausentum und Gier
Nach dem Krieg vollzieht sich in St.Martin aus einer Mischung von Banausentum und Gier "die Zerstörung eines einzigartigen Ensembles" (Günter Metken in dem Standardwerk Max Ernst: Skulpturen, Häuser, Landschaften, DuMont 1998). 1957 verkauft die Gastwirtin, die sich um die Kunst kaum gekümmert hat, das Anwesen für den Gegenwert eines Deux-Chevaux an einen Industriellen aus Lyon. Nachdem Max Ernst in den 50ern vergeblich versucht hat, das Haus wiederzuerwerben, versammeln sich die Geier. Nach und nach werden die fragilen, oft aus Fundstücken zusammengesetzten Skulpturen aus dem Zusammenhang gelöst, zerschlagen, tauchen als nicht legitimierte Bronzeabgüsse in Pariser Galerien auf. Rechtlich ist das alles dubios, Banken und Galerien halten sich im Hintergrund bedeckt, ebenso die Besitzer des Hauses. Zwar haben die lange Zeit nachlässigen französischen Kulturbehörden Loplop und seine Windsbraut inzwischen unter Denkmalschutz gestellt, auch wurden sie restauriert, doch der alte Charme ist hin. Ihn kann man nur noch erahnen, wenn man sich die gegen den Trotz der banausischen Besitzer und unter Mühen geschossenen Fotografien des Bändchens anschaut. Es ist schon einmal, 1996, kaum beachtet, in Köln erschienen; die jetzige, von deutschen Nachbarn in der Provence verlegte Ausgabe ist um biografische Essays und neue Aufnahmen erweitert und ist um weitere bizarre Details dieser surrealen "Traum-Trümmer-Geschichte" aktualisiert.

Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 18 vom 24.4.2003