Tobias Gohlis über Ulrich Schmid: Aschemenschen


Roter Terror in Äthiopien

Das Böse erkennen

Mielkes Männer: Mörder und Helfer

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Ulrich Schmid: Aschemenschen

 

 

Aschemenschen leben nicht vom Gras des Vergessens 

„Der erste Teil dieses Buches ist reine Fiktion, und entsprechend sind die Namen, die Personen und die meisten Orte der Handlung frei erfunden und Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Toten rein zufällig.“
So versichern es die Autoren meist im Vorspann. (Kriminal-)Literatur möchte gerne fiktiv bleiben und juristische Auseinandersetzungen meiden. Ihr Verhältnis zu den Tatsachen ist das der als Fiktion getarnten Insinuation: So schlimm könnte es gewesen sein, so übel war es vielleicht auch. Doch manchmal deckt sie das Übel auf, weil es sonst keiner tut, und mit Wucht.
In Aschemenschen läuft alles auf die anderthalb Seiten des knappen Nachworts hinaus. Darin schlägt Ulrich Schmid, im Brotberuf Auslandskorrespondent der NZZ, bescheiden und zornig den Tonfall des weitgereisten Zeugen an:
„Der zweite Teil ist hingegen zu einem großen Teil ein Tatsachenbericht.“

Roter Terror in Äthiopien
Das, was den Tatsachenbericht ausmacht, geschah vor 30 Jahren in Äthiopien. Es war die Periode des „Roten Terrors“. 1974 hatte eine Militärjunta die Macht ergriffen, um das Volk in einen äthiopischen Kommunismus zu peitschen. Zehntausende kamen bis 1991 um. Heute wird der Zusammenbruch dieses Wahnregimes unter Mengistu als Nationalfeiertag begangen.
Schmid reiste 2005 nach Addis Abeba und erfuhr, daß einer der übelsten Folterer hoch angesehen ist. „Madscheh ist heute der starke Mann des Viehmarktes. Man hat mir angeboten, ihn herzuholen. Er rede gerne mit Fremden, vor allem mit Weißen. Ich lehnte ab. (..) Ich fürchte mich davor, das Böse in ihren Zügen nicht finden zu können.“ Dem Bösen ein Gesicht geben – das ist die unlösbare Herausforderung, der sich Schmids Roman stellt. Gott verpaßte Kain ein Mal. Doch seitdem – und erst recht nicht seit der Erfahrung des Nationalsozialismus – sind die Bösen nur schwer als solche zu erkennen.

Das Böse erkennen
Erla, Bankerin aus der Schweiz, gegenwärtig ansässig in Hongkong, kann das ganz schlecht. Sie weiß nicht einmal, ob sie dem Bösen schon begegnet ist. Ihr Schweizer Ex-Chef ist so ein schillernd-unidentifizerbares Exemplar. Er sammelt Gewaltvideos, die das Abschlachten und Zerstückeln von Pferden zeigen. Geilt er sich daran auf oder dokumentiert er die Grausamkeiten als Tierschützer? Xiao Fei hingegen, quirlig-koboldhafte Teenager-Tochter des größten Unternehmers von Er Quan Gou in Xinjiang, besitzt, vielleicht alters- oder kulturgegeben, ein zweites Gesicht für Gut und Böse. Kaum ist sie Gerd, dem unausstehlich gutgelaunten, ständig schmatzenden, kauenden, lutschenden, futternden fitten Senior aus Deutschland begegnet, nimmt sie einen üblen Geruch wahr. „Er ist fast eine Leiche, aber er ist noch nicht tot,“ sie erkennt: ein Dämon. Aber Xiao Fei sieht auch die Aschemenschen, die sonst kaum jemand wahrnehmen kann. Es sind schöne, große menschenähnliche Wesen. Mit ihren wunderbaren roten Zungen können sie schnalzen, wahrnehmen und zaubern, es sind Wesen, wie sie nur noch in traditionalen, vormodernen Kulturen existieren können, bedroht also vom Untergang und im Abwehrkampf gegen das moderne Böse: Folter und Drogen.

Mielkes Männer: Mörder und Helfer
Erla und Gerd und Xiao Fei sind am Rande der Welt zusammengeraten, auf unwahrscheinliche, höchst zufällige Weise. Gerd hat bei Erlas Reiseunternehmen eine Scheinentführung gebucht, leichte Quälerei durch die Entführer inklusive. Xiao Feis Vater befreit ihn, den Touristentrug nicht durchschauend, was Gerd auch nicht weiter stört. Denn eigentlich ist der Deutsche an den Rand der Wüste Taklamakan gereist, um zu vertuschen, was verborgen ist und bleiben soll.
Die Tatsache nämlich, dass an Haile Mengistu Mariams Rotem Terror Entsandte der DDR-Staatssicherheit als Berater beteiligt waren. Beraten haben sie, so berichtet der Augenzeuge Jonas Tefera, bei Mord, Morddrohung, psychischer und physischer Folter, und bei der Einrichtung der Infrastruktur des Terros. Das, was der Roman nicht erzählen kann, ist der Skandal: Seit 1995 das Bundesverfassungsgericht den aus der DDR stammenden Agenten der Staatssicherheit eine „Teilamnestie“ gewährte, wächst das gut gedüngte Gras des Vergessens über diesen Taten. Auch wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren, sind sie nach so langer Zeit extrem schwer zu verfolgen und anzuklagen. Dass sie nicht vergessen werden, ist das Ziel dieses bemerkenswerten, in einer berauschend schönen Sprache geschriebenen, sperrigen Romans. Schmids Geschichte schweift zwischen Phantastik, Politthriller und Reisebericht changierend weit aus. Seine Lösung beruht auf so vielen glücklichen Zufällen, wie notwendig wären, um Mielkes Entwicklungshelfer lebenslänglich einzusperren.
Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 22 vom 23.5.2006