Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Mariaschwarz




Riss in der Weltordnung

Unklare Clara

Sanfte Blitze

Löcher stopfen

____

Heinrich Steinfest:
Mariaschwarz

 

 

Das Mögliche ist das Wahre

In Hiltroff ist nichts perfekt. Aber Heinrich Steinfests Roman „Mariaschwarz“ ist es: ein erfreuliches Rätsel.

Auf alles gefasst sein, das sollte man grundsätzlich bei einem Kriminalroman. Schon die wie Tischdeckchen gehäkelten Krimis einer Agatha Christie lebten von der Vorstellung, dass jeder ein Mörder sein kann, gleich ob er Lord ist, Gärtner oder Inspektor. Nur wer die Zusammenhänge unerschrocken ins Auge fasst, kommt hinter sie. Dies ist nicht nur die detektivische Maxime einer Miss Marple oder eines Sherlock Holmes. Es ist auch die des 67 Jahre nach Agatha Christie 1961 als ihr Antipode im australischen Albury geborenen Heinrich Steinfest. Vermutlich muss man die Welt einmal von der anderen Seite aus gesehen haben, um sie so zu sehen wie dieser Maler sie sieht.
Maler? Bildender Künstler war Steinfest zuerst. Er begann Science fiction und Krimis zu schreiben, weil er ein „Gegengewicht zur eher abstrakten und hermetischen Wirkung“ seiner Objekte suchte. „Ich wollte einen konkreteren Bezug zu den Dingen entwickeln, und seien es die Dinge, die allein in einem Schädel stecken.“ In Steinfests Schädel können das so verschiedenen Phänomene wie im Polarmeer treibende Quietsch-Entchen sein, eine Leidenschaft für den Philosophen Wittgenstein, wilder Sex im Bahnabteil oder ein Sprachwitz.

Riss in der Weltordnung
Auf alles gefasst zu sein, das hat man, gerade als Krimileser, so internalisiert, dass es einem nicht mehr auffällt. Man nimmt die abstrusesten Geschehnisse als gegeben hin, zum Beispiel die Entführung eines Kindes, nach dem dann Eltern und Polizei Jahrzehnte lang suchen. Da entdecken wir den Riss in der Weltordnung. Nicht bei den 99 anderen Fällen, in denen das verlorene Kind wieder heimkehrt.
Deshalb beginnt Heinrich Steinfest seinen (je nach Zählung zehnten oder elften) Kriminalroman Mariaschwarz mit einer maximalen Verunsicherung. Er beginnt nicht mit einem Mord, sondern mit der Frage: Gibt es Perfektion in der Welt? Und erörtert sie an einem der alltäglichsten Exempel: der Wirt-Gast-Beziehung. Dass jedes Exempel in ein Rätsel und das in eine Bedrohung ausarten kann, wird dem einen Leser klar, wenn er die austarierte Liste doppelter Alkoholika studiert, die Gast Vinzent Olander täglich im österreichischen Berghotel Hiltroff (klingt das nicht nach Ruhrgebiet?) konsumiert. Der andere merkt es erst, wenn Olander in den Zufluss eines Sees namens Mariaschwarz fällt, aber nicht im ansteigenden Wasser ertrinkt, sondern von seinem persönlichen Wirt gerettet wird.

Unklare Clara
Erst nach dieser Introduktion ist die Welt reif für die Horrorgeschichte: der trinkende Olander gehört nicht nur zur bemitleidenswerten Spezies der geschiedenen Väter, ihm ist auch bei einem Autounfall das innig geliebte Töchterchen Clara geraubt worden, während er im Wrack eingeklemmt beinahe verbrannte. Nun sitzt er in Hiltroff und wartet auf ihre Wiederkehr. Clara ist alles andere als klar: Sie taucht auf und verschwindet, wechselt die Bezugspersonen und Identitäten, ist ein Schwindelkind ohne Kontur. Man kann das mit intellektuellem Vergnügen als parodistischen Beitrag zu einem der gegenwärtig rührseligsten und beliebtesten Krimistoffe lesen – doch die sehnsüchtige Suche nach Clara ist noch anderes. Sie ist der rote Faden, gewissermaßen das einzig Klare, im Romankosmos von Mariaschwarz. Der versammelt auf dem engsten Raum des voll industrialisierten und modernisierten Bergdorfes Hiltroff Löcher im Universum, ein Seeungetüm, die Ursuppe, aber auch eine kleine Theorie über Thomas Bernhard als Wecker Österreichs. Ohne allzu sehr vorzugreifen: Clara wird nie richtig klar werden, wohl aber das Glück, eine Clara zu haben.

Sanfte Blitze
Allein das kitsch- und klischeefrei hinzukriegen, ist eine so großartige schriftstellerische Leistung, dass sie nicht einem der entzückten Kritiker dieses Meisterstücks bisher aufgefallen ist. Das hat damit zu tun, dass alles, was Steinfest schon früher draufhatte, in Mariaschwarz in formalem Gleichgewicht und Vollendung gelungen erscheint. Aufs bizarrste treffende Metaphorik paart sich mit zum Brüllen komischen, also tief weisen Sprüchen, großartige Epigramme zucken wie „sanfte Blitze“ durch eine düstere, neblige Welt, erhellen dieses Zentrum am Rande, in dem Alles anders ist und doch genau so, wie wir es schon immer für möglich hielten. Zu Beginn heißt es von Olander, er erinnere an den Maler Picabia. Der hatte gesagt, der Kopf sei rund, damit das Denken die Richtung wechseln könne. Das geht, sieht man in Mariaschwarz. Und wie!

Löcher stopfen
Krimi oder Nicht-Krimi, das ist oft die Frage an Steinfest. Er betont, das Genre ernst zu nehmen, und das stimmt, in Mariaschwarz sogar bis zum Exzess. Wie Marlowe in Chandlers berühmtem Roman Die Tote im See erst dann zum besänftigenden Whiskey greifen kann, wenn alle Fäden der Intrige entwirrt sind, so kann auch Inspektor Lukastik aus Wien erst dann den Dienst quittieren, wenn alle Löcher im Universum – wenigstens für die Dauer der Lektüre – verdeckt sind. Denn das ist nach Aussage des dubiosen, aber sehr gepflegten Firmenanwalts Dr. Grünberg, der leider erschossen werden wird, die Aufgabe der Kunstwerke: Sie verdecken die Löcher in den Wänden dahinter. In seinen Worten: „Löcher in Wänden, die so aus dem Nichts auftauchen, sind unbegreiflich. Die Kunst ist zwar auch nicht immer ganz leicht zu verstehen, aber sie stellt nicht wirklich ein Rätsel dar, welches uns um den Verstand bringen könnte. Das erfreuliche Rätsel um die Kunst verbirgt das unerfreuliche Rätsel um die Löcher. Das ist der Trick der Kultur. Und es ist ein guter Trick.“

Unredigiertes Manuskript, Vorwort zur Ausgabe von Mariaschwarz in der Reihe „Kultkrimi“ der Editon Büchergilde Juni 2009

Siehe auch: Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Siehe auch: Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle

Siehe auch: Tobias Gohlis über Heinrich Steinfest: Wo die Löwen weinen