Der Leipziger Südraum im Wandel

Es lacht der See...

Sichtbarer Wandel

Versinkende Vergangenheit

Der Mont Ventoux leigt nahe

In den Canyons

Nur ein kleines Dorf...

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Links & Infos

Straße der Braunkohle
Interaktive Karte, Tourenvorschläge, einzelne Orte und ihre Geschichte

Cospudener See
Freizeitprogramm, Schiffsfahrpläne, Restaurants

Tourismusverein Leipziger Land
Der Markkleeberger Veren bietet Touren, vermittelt Privatzimmer und zeigt das Land

Karl-Detlef Mai: Regiotour
Geführte Gruppen- und Einzelfahrten im Braunkohlengebiet

Heuersdorf
Heuersdorf will leben

 

 

 

 

 

Neuseeland im Südraum

Eine Reise durch das ehemalige Braunkohlengebiet in Leipzigs Umland: Baden statt Baggern

Welche Farbe hat das Glück? Weiß und blau. So hat es der Leipziger Künstler Wolfgang Mattheuer gemalt. Auf seinem berühmten Bild „Hinter den sieben Bergen...“ schwebt eine weißgewandete Glücksfee in einem so überwältigenden Himmelsblau, dass der Betrachter unwillkürlich denken musste: Das gibt‘s doch nicht! Zumal dann, wenn er das Gemälde noch in der grauschwarz verrußten Stadt gesehen hat, in der es 1973 entstanden ist.
Jetzt habe ich dieses Blau wiedergesehen, am Himmel über dem Südraum. So nennen die Leipziger das Gebiet südlich der Stadt, bizarre 650 Quadratkilometer Bergbaufolgelandschaft aus Industriebrachen und High-Tech-Werken, Tagebaurestlöchern, Seen und Siedlungen, die bis zum thüringischen Altenburg und dem Kohrener Ländchen reicht. Jahrelang galt neben Bitterfeld der Südraum als Synonym für Umweltverseuchung und Raubbauwirtschaft – jetzt, zehn Jahre nach der Wende, ist er neu zu entdecken, ein Experimentierfeld für Zukunft.

Es lacht der See...
Ausgangspunkt der Reise ist der Cospudener See, südlich im Weichbild Leipzigs und neben der kleinen Stadt Markkleeberg gelegen. Unter Mattheuerschem Himmelsblau dehnt er sich weit, ein See im Werden, an den Rändern von Schilf, frisch angesiedelten Büschen und aufgeschüttetem Strand gefasst. Am sandigen Ufer lagern Badegäste. Eine Familie spielt Volleyball, Kleinkinder krabbeln, ein nackter Adonis reckt sich in der Sonne – Augustglück an der „Costa Cospuda“. „Ist das nicht fantastisch? Gucken Sie nur, wie die Menschen sich ihren See aneignen.“ Landschaftsplaner Siegfried Knoll ist zufrieden. So soll es sein, so soll es werden. Eigentlich darf man noch gar nicht baden, aber: Wer will es den Leipzigern und Markkleebergern verwehren, in ihre neue Naturbadewanne zu springen? Schließlich haben sie sie erkämpft.
Wo jetzt der See zu Plantschen und Himmelsbetrachtung lädt, dröhnte noch vor neun Jahren die Sauriermaschinerie des Braunkohlentagebaus. Holzfäller rückten ins Weichbild der Stadt vor, um der Leipziger liebstes Grün, den Auwald, niederzumachen. 10 000 Demonstranten standen ihnen gegenüber: „Stopp Cospuden!“ forderten sie. So lange hatten Stadt und Land unter der Braunkohle gelitten. Erst hatten die Nazis die „brennbare Erde“ im großen Maßstab für ihre Kriegswirtschaft ausgebeutet, dann diente sie als Hauptenergierohstoff der DDR. 60 Siedlungen, darunter 1974 das Dorf Cospuden selbst, und riesige Flächen Auenwald hatte der Tagebau bereits gefressen. Die Flüsse Elster und Pleiße waren verlegt, kanalisiert und in Kloaken verwandelt worden, auf denen ekelerregende Schaumbatzen trieben. Jetzt, in der Wende, sollte Schluss mit dem Raubbau sein. Und tatsächlich gelang es in jener Hochzeit direkter Demokratie Bürgern und Rundem Tisch, die Bagger zu stoppen, bevor sie sich noch tiefer in die grüne Lunge der Stadt fressen konnten. „Das war die befreiendste Aktion, die wir 1990 gemacht haben“, erinnert sich Tobias Hollitzer. Für den Umweltschützer und Radikaldemokraten, der in den Jahren 1988/89 auch an den „Pleißemärschen“ gegen die Verseuchung des städtischen Flusses teilgenommen hatte, ist der Cospudener See ein ganz praktisches Symbol für die Wende 1989.
„Den Wandel zeigen“ – unter diesem Motto stehen die Leipziger Beiträge zur Expo 2000.

Sichtbarer Wandel
Vielleicht ist dieser Wandel nirgendwo deutlicher zu sehen als von der „Bistumshöhe“ aus. In dem brettflachen Land ist der künstliche Kegel von 20 Metern Höhe am Südufer des Cospudener Sees schon ein veritabler Feldherrnhügel. Wenige Landmarken binden am fernen Horizont den Blick: im Norden die Türme des Leipziger Rathauses und der Universität, weiter östlich der plumpe Phallus des Völkerschlachtdenkmals, im Süden und Westen die Hochschlote und Kühltürme der alten und neuen Kraftwerke.
Auf der Bistumshöhe beziehen die Planer gerne Posten, um die Zukunft mit weiten Armbewegungen zu skizzieren. „Nur jetzt haben wir die Chance, diese zerstörte Landschaft neu zu gestalten, es ist ein einmaliger Akt der Welterschaffung, der nicht am fehlenden Geld scheitern darf, “ schwärmt Niels Gormsen. Der ehemalige Planungsdezernent von Leipzig eilt noch als Ruheständler unermüdlich vermittelnd und planend durch den Südraum. Über das Rohr hinweg, aus dem ein meterdicker erdbrauner Strahl Füllwasser in den wachsenden See schießt, skizziert Siegfried Knoll das Bild der Expolandschaft, die sein Büro mit entworfen hat. Aus der Stadt werden Kanuten über neue Wasserwege herangerudert kommen und Fährschiffe über den See kreuzen, im Yachthafen werden Segelboote liegen, die Strandpavillons und der Seesteg werden fertig sein. Auf der Seebühne werden Michael Jackson und U2 Open-Air-Konzerte geben. Biotopverbünde, ein Golfplatz, geschützte Feuchtgebiete, die nur zu Fuß betreten werden dürfen, eine Modellsiedlung – ganze Kataloge postindustrieller Landschaftsgestaltung werden Expo-Wirklichkeit werden. Auf der Bistumshöhe wird Futur geredet.

Versinkende Vergangenheit
Im Westen liegt ein Stück Vergangenheit. Nur wenige hundert Meter muss man dorthin zurücklegen. Dann blickt man in das gigantische Loch des erst dieser Tage stillgelegten Tagebaus Zwenkau: So sah der Cospudener See vor zehn Jahren aus. In vierzig Metern Tiefe schimmern purpurfarbene Tümpel zwischen den kilometerlangen Graten aus Abraumerde, die sich wie die Furchen eines Riesenpflugs am Grund hinziehen.
In der Ferne spreizt sich das gewaltige Stahlgerüst der Abraumförderbrücke Zwenkau einen halben Kilometer weit über dem Tagebaugrund. Was soll mit ihr geschehen? Angeregt durch Ferropolis, die „Stadt aus Eisen“ bei Dessau, entwarfen 1998 Künstler und Architekten für diesen Drachen des Industriezeitalters eine Zukunft als begehbares, lebendes Denkmal. Im schönsten Gedankenspiel schwebt sie als multimediales Abenteuergerüst auf einer künstlichen Insel im neu entstandenen Zwenkauer See, an Land zeigt zu ihren Füßen ein Archäologiepark die reichen stein- und eisenzeitlichen Siedlungsfunden aus dem Südraum. Doch bis Ende 1999 müssen Investoren aufgetrieben werden, die die benötigten 70-80 Mio. DM Kosten für Erhaltung und Umsetzung dieser „Ikone mitteldeutscher Industriekultur“ (so Bezirks-Denkmalschützer Wolfgang Hocquél) aufbringen können, sonst wird sie gesprengt.
„Die Förderbrücke ist ein einzigartiges Werk, sie müsste von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt werden!“ Walter Christian Steinbach, Regierungspräsident des Bezirks Leipzig, erhebt die Stimme. Wenn es um den Südraum geht, gewinnt der ehemalige Pfarrer Propheten-Format. Vor rund 20 Jahren begann er in seiner Gemeinde Rötha, mit Umweltgottesdiensten und Baumpflanzaktionen sanfte Unruhe zu stiften. Rötha lag im finsteren Schatten von Espenhain, eine der übelsten Dreckschleudern der DDR. So schlimm war der ungefilterte Auswurf, dass an manchen Tagen Volkspolizisten mit Fackeln im 10-Meter-Abstand am Straßenrand stehen mussten, weil die Autofahrer nicht am Werk vorbei gefunden hätten.
Durch eine beispielhafte Unterschriftenaktion wurde Espenhain 1988 zum Symbol. Als die DDR-Oberen eingestanden, kein Geld für die lebensnotwendige umwelttechnische „Rekonstruktion“ des Braukohlekombinats aufbringen zu können, kamen christliche Umweltschützer aus Dresden und Rötha auf die geniale Idee, „Eine Mark für Espenhain“ zu sammeln. Bis Juli 1989 wurden 27000 Unterschriften und Mark in der DDR, aber auch in der CSSR und Polen gesammelt. Die 100 000 Mark der DDR, die schlussendlich zusammenkamen, wurden Teil des Startkapitals einer Stiftung, die zum Zentrum wissenschaftlich-technischer Innovation in der Region werden will.
Die Leere des Südraums zieht Pläneschmiede und Investoren an. 1,5 Mrd. DM pro Jahr sind seit 1993 allein aus Bundesmitteln in die Sanierung des schwer beschädigten Landes geflossen. „Neuseeland“ soll entstehen, eine der größten deutschen Erholungslandschaften, in der insgesamt 15 Seen zu einem Gewässerverbund zusammenwachsen, mit dem Cospudener „Südsee“ als erstem Vorzeigeprojekt. Ein Freizeitpark, in dem man einmal um die Welt reisen kann, ist geplant, eine Autobahn, Avantgardetechnologien sollen angesiedelt werden, alles mit geringstem Schaden an Landschaft und Natur. Für Steinbach vollzieht sich in der Gegend um Leipzig „die größte Landschaftsveränderung durch Menschenhand in Europa“. Noch sind die Fortschritte klein, aber erkennbar wie die Pleiße, die neuerdings wieder freigelegt unter Walter Steinbachs Dienstfenster durch Leipzig fließt.

Der Mont Ventoux liegt nahe
Einer dieser kleinen Fortschritte tut sich in Mölbis auf. Aus dem schmucken Dorf, das zu DDR-Zeiten als das dreckigste Europas galt, führt ein Wanderweg hinauf zur Hochhalde Trages. Wie eine Miniaturausgabe des Mont Ventoux überragt die 1938-1948 aufgeschüttete 200 Meter hohe Abraumhalde das umliegende Land. Erst im Juli 1999 wurde sie für die öffentliche Nutzung freigegeben. Oben betritt der Besucher eine andere Welt: Insekten summen, Orchideen blühen in wildem Violett. Auf den zusammengeschobenen Abraummassen der Halde, denen kaum jemand Fruchtbarkeit zutraute, ist inzwischen ein von Naturschützern bewundertes Biotopensortiment entstanden.
Doch auch der Nichtbiologe kann sich an der eigentümlich über den Industriegebieten schwebenden Heidelandschaft erfreuen. Wie abgetan liegen am Fuß der Halde die Ruinen der Karbochemie Espenhain. Von neu gestalteten Aussichtspunkten blickt man auf sie herab wie in Arizona auf die Höhlensiedlungen der Anasazi in den Canyons: erschreckt und erstaunt über die technischen Taten der Vorfahren, deren Kultur man kaum mehr begreift. Die Fenster der Fabrikanlagen sind blind und eingeschlagen, auf den Türmen und Förderanlagen haben sich Birken angesiedelt, Krähen akzentuieren die schwarze Romantik.
Oben begegnete mit ein einsamer Radler, der von Leipzig her hier herauf geklettert war. Beide bestaunten wir das Riesenrad eines Schaufelbaggers, das man zu Erinnerungszwecken in den Sandboden gerammt hat. „Ist das nicht hochinteressant?“ hob der sportliche Leipziger zu einem Vortrag über Bergbautechnik an, der überhaupt nicht enden wollte. Erst später verstand ich: Das war das, was die Planer Aneignung nennen.

In den Canyons
Einer, der sich schon seit Jahren den Bergbau aneignet, ist der Fotograf Karl Detlef Mai aus Störmthal. Für Betriebsfremde ist Karl Mais Besucherausweis der Schlüssel zu den Canyons des Tagebaus. Er ist einer der wenigen Gästeführer, der das Werksgelände betreten darf, und nimmt mich im PKW mit.
Gleich hinter der Schranke fällt die Baustraße ab. Der Horizont rückt zusammen, bei strahlendem Sommersonnenschein fahren wir in die Grube. Bald geben nur noch Rohrleitungen und Förderbänder Orientierung. Der mal schlammige, mal staubige Weg verläuft wie eine Achterbahn und verlangt von Fahrer und Wagen das letzte. Doch die Ausblicke lohnen jede Strapaze. Tief unten sickert Grundwasser, schillernd von dunkelrot bis preußischgrün, in den Rinnen. Mit dramatisch steilen Ufern windet sich ein Canyon um die himmelhoch ragende Landzunge, auf der die noch 1992 beinahe devastierte Ortschaft Dreiskau-Muckern liegt. Am Grund sammelt sich blau das Wasser des künftigen Störmthaler Sees. An anderen Stellen sind weite, leichtgeneigte und geriffelte Flächen entstanden, über die der heiße Augustwind gelben Staub treibt. Am Rande dieser Wüste nagt immer noch ein Bagger an Mutter Erde. Stetig rückt das Ungetüm vor. Nicht mehr als drei Arbeiter koordinieren die Bewegungen der beiden haushohen Maschinenkörper und des riesigen Schaufelrads, das unaufhörlich von links nach rechts und wieder zurück schwenkt und dabei den gewachsenen Boden abschabt. Unter Höllenlärm scheidet das Monster einen Geriesel brauner Erde aus, das über Förderbänder in der Ferne verschwindet, um irgendwo eine Böschung auszugleichen oder den Damm aufzuschütten, auf dem in ein paar Jahren die neue Autobahn A38 das Land zerschneiden wird.
Diese ehrfurchtgebietende Landschaft ist die eigentliche Sensation des Südraums. Vielleicht braucht es die Unschuld des touristischen Blicks, um sich ihrem Reiz für Augenblicke ganz überlassen zu können. Dass das Drama von Menschenhand geschaffen ist, spielt kaum eine Rolle. Gewaltig sind die Proportionen von Tiefe, Weite und Höhe, abrupt die Wechsel zwischen Schründen, Abgrund und Flächen. Selbst die aus der Nähe riesenhafte Maschinerie verliert sich in diesen Urgründen, wirkt als Bestandteil einer ungeheuren Natur, aus der der Mensch beinahe ausgeschlossen ist. Für einige Jahre noch wird man diese Tageslicht-Unterwelt erleben können – dann wird sie von Wasser bedeckt sein und Neuseeland sein.

Nur ein kleines Dorf...
In dem bisher gezeichneten Sommerglücks- und Fortschrittspanorama komm ein Ort nicht vor. Er fehlt auch in dem Faltblatt, mit dem Enthusiasten eines Industrie- und Geschichtstourismus die „Straße der Braunkohle“ vorstellen. Heuersdorf gehört nicht zu den 37 anzusteuernden Museen, Fabriken, Siedlungs-, Renaturierungs- und Kulturprojekten, die den Braunkohlenabbau in konsumierbare Geschichts-Distanz rücken. Heuersdorf ist krasseste Gegenwart, der letzte Ort in der Region, der der Braunkohle geopfert werden soll. Aber im Unterschied zu der nicht weit entfernten 800-Seelengemeinde Großgrimma, deren erfolgreiche Umsiedlung 1998 gemeinhin als Vorbild an Sozialverträglichkeit angesehen wird, wollen die Heuersdorfer nicht weichen.
Einschüchternde 175 Meter hoch überragen die beiden Kühltürme des funkelnagelneuen Braunkohlekraftwerks der VEAG im benachbarten Lippendorf den kleinen Ort. Rund 300 Menschen wohnen in Heuersdorf, genau über der Braunkohle, deren Verheizung den Kraftwerksbau erst rentabel machen soll. Die Türme und die unnahbaren Klötze seiner zwei 900-Megawatt-Blöcke repräsentieren die Macht des Faktischen: Fünf Milliarden DM Neuinvestition stehen gegen die Existenz eines 700 Jahre alten Dorfes. Mich erinnerte die Stimmung in Heuersdorf an die Atmosphäre zornigen Widerstands, mit dem Ende der siebziger Jahre die Winzer und Fischer des badischen Ortes Wyhl den Bau eines Kernkraftwerks verhinderten. Dieselbe Wut, dieselbe Verbitterung über die Uneinsichtigkeit der demokratisch legitimiert Herrschenden spricht aus den Transparenten an den Gartenzäunen, aus den Skulpturen von David und Goliath, die vor dem Schild „Heuersdorf will leben“ unter der Dorflinde stehen. „Wenn es gar keine andere Möglichkeit gäbe, die Menschen mit Strom zu versorgen, würde ich gehen,“ versichert ein alter Heuersdorfer im Dorfkrug „Zur Glocke“. Doch einsichtig beweisen konnten das die Sächsische Regierung, die Braunkohlenindustrie und die Kraftwerksbetreiber den Heuersdorfern bisher nicht. Während das Kraftwerk fertig gestellt und noch in diesem Jahr ans Netz gehen wird, wehren sich die Heuersdorfer gegen die Übermacht, so gut sie können: mit Propaganda und Homepage, mit Normenkontrollklagen beim sächsischen Verfassungsgericht und mit Eigensinn. Vielleicht erwischen sie ja auch noch eine Glücksträhne.

Veröffentlichung in DIE ZEIT 36 vom 2.9.1999