Tobias Gohlis über Jan Costin Wagner: Eismond

 


Ein Kenner des Todes

Gemeinschaft der Zurückgelassenen

____

Jan Costin Wagner: Eismond

Jan Costin Wagner: Nachtfahrt

 

 

Kalt sind die Sommer in Turku

Kunst ist eines der Verfahren, mit denen wir uns den Tod vom Leib halten. Er ist unausweichlich. Also entwerfen wir Strategien der Abwehr, die zugleich Vorbereitung sind auf das Unvermeidbare. Der Tod kann nicht geleugnet werden. Um mit ihm klarzukommen, halten wir ihn auf einer Distanz, die gerade so gering ist, dass wir emotional berührt werden, und so groß, dass wir das Furchterregende betrachten können.
Dies ist vermutlich der tiefste Grund dafür, dass sich eine ganze Literaturgattung auf die Todesart verlegt hat, die am seltensten vorkommt. 873 Fälle von Mord verzeichnet die deutsche Kriminalstatistik für 2002. Beinahe zehnmal mehr Menschen sterben allein bei Autounfällen. Und doch handelt der Krimi fast immer nur von Mord. Das Schaudern über die Extreme menschlichen Handelns trainiert den Angstmuskel, der reißen kann, wenn der Tod wirklich in unser Leben tritt. Wenn man genug Zeit dafür hat, kann man sich vielleicht auf das eigene Sterben vorbereiten, auf den Tod einer lieben Person nicht.
Das erfährt in Jan Costin Wagners Eismond einer, der mit dem Tod vertraut sein sollte. Kimmo Joentaa ist Mitarbeiter der Mordkommission im finnischen Turku. Er sitzt im Krankenhaus am Bett seiner Frau. Dann geschieht, was er sich nicht vorstellen konnte. "Es war vierzehn Minuten nach drei, und sie war eingeschlafen. Der Gedanke an den Moment ihres Todes und an die Minuten danach hatte ihn häufig beschäftigt, hatte ihn heimgesucht gegen seinen Willen, er hatte sich bemüht, ihn abzuschütteln. Halb bewusst hatte er geglaubt, gehofft, ihr letzter Atemzug werde auch sein Leben zum Stillstand bringen."

Ein Kenner des Todes
So ruhig, so kühl war das lange nicht mehr zu lesen. Jan Costin Wagner, gerade mal 30 Jahre alt, ist ein Kenner des Todes. In seinem ersten Roman Nachtfahrt, für den er mit dem Marlowe-Preis 2001 ausgezeichnet wurde, seziert er die Entwicklung eines Mörders. Doch dieser Charakterstudie merkte man noch die Anstrengungen der Konstruktion an. Das lag auch daran, dass Wagner seinen gefühlskalten Jungschriftsteller an einen Ort entsandt hatte, an dem sich innere Kälte auf Dauer nicht hält. An der französischen Atlantikküste brennt die Sommersonne zu heiß. In Turku aber ist es kalt, in dem Sommer jedenfalls, in dem nicht nur Kimmo Joentaa seine Frau verliert.
Während Joentaa zu begreifen versucht, was mit ihm geschehen ist, findet ein anderer Mann bei der Rückkehr von einer Dienstreise seine Frau im Bett erstickt vor. Beinahe liebevoll hat ihr der Mörder ein Kopfkissen auf das Gesicht gedrückt. Danach hat er ein Glas Wein getrunken, wie um Abschied zu nehmen.
Joentaa kennt die Leere, die der heimgekehrte Ehemann verspürt. Jeden Morgen wird er im Büro vom hilflosen Herumgedruchse seiner Kollegen tiefer hineingestoßen. Als in einer Jugendherberge ein junger Mann auf die gleiche Weise wie die Frau erstickt wird, spürt Joentaa hinter der Gleichgültigkeit des Täters gegen jede Entdeckungsgefahr etwas Vertrautes. Er ahnt, dass auch er durch die Berührung des Todes betäubt ist.

Gemeinschaft der Zurückgelassenen
Es ist dieses Gemeinschaftsgefühl der vom Tod Affizierten, ja Auserlesenen, das Joentaa befähigt, wie in Trance die richtigen Ermittlungsschritte zu gehen. Als müsse er die Gemeinschaft der im Leben Zurückgelassenen verstärken, holt er sogar den Liebhaber eines weiteren Mordopfers aus Deutschland. Wie eine Totenkrähe sitzt dieser Daniel Krohn in Joentaas Haus, nicht wissend, was er in Turku soll, und trägt doch entscheidend zur Lösung bei.
Eismond ist ein Kriminalroman, dem die Regeln des Genres gleichgültig sind. Das macht ihn so außerordentlich. Wagner interessiert das, was Polizei und Leser beschäftigt - die Überführung des Serienmörders - nicht. Ihm geht es um das Geheimnis des Todes. So tief wie nur möglich dringt er ein in die Innenwelt des Mörders - und steigert die Spannung, bis uns nur noch eine Frage quält: warum?
In seiner ruhigen, kargen, introspektiven Sprache erzählt Wagner Unerhörtes. Selten ist ein Kriminalroman so nah an das Rätsel des Todes herangerückt. Wagner hat, was nötig ist: das Talent zur Verunsicherung.

Veröffentlichung in DIE ZEIT Nr. 31/03