Tobias Gohlis über Don Winslow: Das Kartell

 


Don Winslow:
Das Kartell

Aus dem Englischen von Chris Hirte

 

Drogenkrieg in Mexiko

Don Winslows Fortsetzung von "Tage der Toten": Spannungsspektakel und Heldenehrung

Achtzigtausend, manche sprechen von auch von hunderttausend Tote hat der Drogenkrieg in Mexiko gekostet. Es gab sichtbare, ausgestellte Opfer: Geköpfte, gehäutete Leichname, zur Abschreckung auf öffentlichen Plätzen drapiert. Und es gibt eine unbestimmte große Zahl von Verschollenen: verscharrt, in Säure aufgelöst, einfach verschwunden wie zuletzt dreiundvierzig Lehrerstudenten in Iguala.
In seinem fulminanten Roman Tage der Toten hat der amerikanische Autor Don Winslow dreißig Jahre des bizarren Kriegs der USA gegen die Drogen beschrieben, von 1975 bis 2004 reichte sein epischer Atem im ersten wütenden Anlauf. Er wurde zu Recht als Anklage gegen eine amerikanische Politik gelesen, die mit Milliarden und Geheimaktionen letztlich Mafia und mexikanische Kartelle groß gemacht hat, während deren Kundschaft ständig wuchs: Allein in den letzten zehn Jahren hat sich der Konsum von Heroin und Kokain in den USA verdoppelt. Schon 2005 forderte Winslow halb verzweifelt, halb schicksalsergeben die Freigabe aller Drogen, um Irrsinn, Leid und Kosten zu mindern.

Seit 2004 hat sich nichts wesentliches geändert. Daher ist es konsequent, dass Winslow die Geschichte weitererzählt. Sein neuer Roman Das Kartell ist wieder vielschichtiges Epos und Verdichtung realer blutiger Ereignisse auf einen fiktiven Zweikampf. Art Keller, amerikanischer Drohnenfahnder und Adán Barrera, der patrón des Sinaloa-Kartells, haben für ihre an Hektor und Achilles erinnernde Feindschaft bereits hunderte von Kombattanten geopfert. "Ihre Fehde kann nur mit dem Tode enden – einer von beiden oder beide." Noch im amerikanischen Gefängnis, in das ihn Keller gebracht hat, setzt Barrera einen Kopfpreis auf den Todfeind aus. Keller hat das ungeschriebene Gesetz gebrochen, keine Familienmitglieder zu involvieren, als er Barreras Tochter nutzte, um den Vater zu fangen. Doch kurz darauf dealt sich Barrera mit Duldung der amerikanischen Behörden frei. Sein Versuch, sich in Mexiko erneut zum Boss der Bosse aufzuschwingen, heizt den Drogenkrieg der Kartelle an. In verschiedenen Bündnissen und Machtkonstellationen, die jeden Tag zerbrechen können, versuchen die wahnwitzigen Zetas, Barreras Sinaloa-Kartell und das Juárez-Kartell sowie weitere die Kontrolle über die Drogen und die Macht in Mexiko zu erlangen.

Winslow hat verschiedentlich den Cowboy und den Western als Archetypen der amerikanischen Literatur bezeichnet. Art Keller agiert entsprechend als einsamer und zunehmend wahnhafter Cowboy, organisiert in Gestalt paramilitärischer Söldnerverbände (mit klammheimlicher Billigung des Präsidenten) Lynchtrupps und mutiert zum zombiehaften Killer mit gespaltener Seele. Wäre dies das einzige – dem Spannungsspektakel geschuldete – Erzählmuster, würde man Das Kartell als brutalen, in einzelnen Szenen empörenden, doch letztlich zweiten Aufguss lesen. Doch Winslow kann dem Widerstand, den es in Mexiko selbst gibt, ein Denkmal setzen: den Journalisten und tapferen Zivilisten, die sich gegen den bestialischen Terror zur Wehr setzen. Sie sind die wahren Helden dieser kaum erträglichen und dennoch lesenswerten Erzählung.


Unredigiertes Manuskript, Veröffentlichung in Die Zeit Nr. 24 vom 11.06.2015